SZ-Debatte:Fahrt in die Zukunft

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Der öffentliche Nahverkehr ist eines der großen Themen im Kommunalwahlkampf. Bei einer SZ-Busfahrt mit den Landratskandidaten kommen dazu viele spannende Ideen auf - bis hin zu einer Art Mobilitätssteuer.

Von Viktoria Spinrad und Florian Zick

Donnerstagabend, 19.40 Uhr. Monika Scherer ist nach der großen ÖPNV-Debatte mit ihrem Rollstuhl gerade am Wolfratshauser Bahnhof angekommen, da tut sich vor ihr ein bezeichnendes Problem auf: Am Busbahnhof wartet ganz vorne der 379er. Doch der Weg dorthin ist im wahrsten Sinn des Wortes steinig. Mühevoll navigiert Scherer ihren Rolli auf dem schmalen Mittelsteig über das holprige Pflaster, fast gerät sie dabei in Schieflage. "Ich kenne das ja", sagt sie nüchtern, während fünf Meter vor ihr der Bus den Blinker setzt. Lena Gneist legt noch einen kleinen Sprint ein, versucht, den Bus aufzuhalten - doch es ist zu spät: Der 379er ist weg.

Die Situation im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in der Region ist nicht nur für Monika Scherer manchmal frustrierend. Fehlende Anschlüsse, ein zu schwacher Takt, kaum Querverbindungen - auf dem Weg zu einer richtigen Verkehrswende gibt es noch viele Baustellen. Auch im laufenden Kommunalwahlkampf ist der Nahverkehr eines der ganz großen Themen. Die SZ Bad Tölz-Wolfratshausen hat mit den Landratskandidaten deshalb eine Busfahrt durch den Landkreis gemacht - wenn man so will: Anschauungsunterricht am fahrenden Objekt.

Als der Bus gegen 18 Uhr losfährt, hat sich der amtierende Landrat Josef Niedermaier (Freie Wähler) strategisch nicht unklug ganz hinten auf dem Mittelsitz positioniert. Niedermaier ist sofort auf Betriebstemperatur. Die Fahrt führt von Wolfratshausen nach Bad Tölz und zurück. "Das ist die Hauptachse des Landkreises", sagt der 56-Jährige mit ausladender Gestik. Und bei einer Hauptachse, da hätte der Freistaat eigentlich für eine Gleisverbindung sorgen müssen. Dass es eine solche nicht gibt: "ein Riesenmanko", sagt Niedermaier.

Aber zumindest komme nun Bewegung in die Sache. "Ich bin der Letzte, der Markus Söder lobt", so Niedermaier. Aber mit dem Expressbus, der 2021 erstmals von Starnberg über Wolfratshausen nach Tölz fahren soll - damit sei auf jeden Fall ein Anfang gemacht.

Die S 7 sei das Hauptproblem, sagt Vize-Landrat Klaus Koch, der wieder als Spitzenkandidat der Grünen antritt. Die Linie sei die anfälligste im gesamten MVV-Gebiet. Wer bei Linde in Pullach oder bei Siemens in Sendling arbeite, setzte sich deshalb lieber ins Auto - auch, wenn es eigentlich eine gute öffentliche Anbindung gibt. "Die Unzuverlässigkeit bringt die Leute davon ab, die S-Bahn zu nutzen", sagt Koch. Wenn er nach München rein müsse, fahre er selbst auch lieber mit dem Auto und steige in Fürstenried-West dann in die U-Bahn um. Bei Terminen könne man sich eine unsichere S-Bahnverbindung einfach nicht leisten.

Der SZ-Bus kurvt durch die Dörfer in Egling. Die Strecke fährt normalerweise der 377er ab - allerdings nur dreimal am Tag, an Sonn- und Feiertagen sogar nur einmal. Das bringt natürlich niemanden dazu, das private Auto stehen zu lassen. Beim 379er wurde kürzlich deshalb auch der Takt verdichtet - für 1,5 Millionen Euro. Das entspreche ungefähr einem Prozent der Kreisumlage, erklärt Landrat Niedermaier. Und plötzlich ist in der Debatte auch einer mit dabei, der ursprünglich gar nicht an Bord gegangen ist: CSU-Kandidat Anton Demmel musste die Teilnahme an der Fahrt krankheitsbedingt absagen. "Von ihm hätte ich aber schon gerne mal gehört", sagt SPD-Kandidatin Filiz Cetin, "wie die CSU für die Verkehrswende sein kann, aber gegen eine Erhöhung der Kreisumlage." Das passe doch nicht zusammen.

Demmel erklärt am nächsten Tag am Telefon, immer noch schwer erkältet: Natürlich sei er für Taktverdichtungen - aber eben nur da, wo es auch sinnvoll sei. Die Busse seien in der Früh übervoll, abends um zehn aber meistens leer. "Das sind Geisterbusse, da kriegt man fast Angst, wenn man da mitfährt", sagt Demmel. Und ohnehin: Bei der Debatte über die Verkehrswende gebe es momentan nur schwarz oder weiß. "Ich bin aber in der Grauzone", sagt Demmel. Und das bedeute: Man dürfe sich nicht alles leisten, was man sich so wünscht. "Sonst laufen wir in eine finanzielle Katastrophe", sagt Demmel.

Im SZ-Bus hätte Demmel dafür wohl vor allem Widerworte bekommen. Cetin ist dafür, in kleinen Orten kleine Busse einzusetzen, in großen Orten große. Sebastian Englich von der Linken würde den ÖPNV am liebsten sogar über eine Art GEZ für den Nahverkehr finanzieren. Bus und Bahn würden dann wie das öffentlich-rechtlich Fernsehen über eine Zwangsabgabe gefördert. Fahrkarten bräuchte es dann nicht mehr. "In Luxemburg haben sie das auch so gemacht", sagt Englich.

Der Bus rollt die Staatsstraße 2072 nach Tölz runter. Auf der Gegenfahrbahn kommen einem im Feierabendverkehr lange Reihen von Autos entgegen. Er sei zwar auch für den Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs, sagt Niedermaier. Im Landkreis sind zwei Drittel des Energieverbrauchs schließlich auf den Verkehr zurückzuführen, davon wiederum 75 Prozent auf den Pkw-Verkehr. Aber man könne die Situation hier nicht mit Luxemburg vergleichen. Im MVV-Gebiet würden 50 Prozent der Kosten über die Ticketpreise gedeckt, in Luxemburg seien es nur fünf Prozent gewesen. Da habe man sich natürlich leicht getan, das Fahrgeld abzuschaffen. Und was kleine Busse angehe: Das sei alles nicht so leicht. Die Busse würden schließlich mehrfach ihre Runden drehen, dabei müssten sie auch Tagesspitzen abfangen. Am Nachmittag sei die Zahl der Fahrgäste vielleicht gering, so Niedermaier. "Aber ich kann mittags zum Schulschluss nicht irgendwo einen kleinen Bus hinstellen."

Einen Bus wünscht sich auch Lena Gneist. Sie wendet sich in ihrer Sitzreihe nach hinten, dorthin, wo der Landrat sitzt: Einen Bus zur Tram-Haltestelle nach Grünwald, "das wäre eine gute Idee", findet sie. Dann könnte man von dort aus mit der Straßenbahn nach München reinfahren. Der Vorteil: Ist auf der S-Bahn-Stammstrecke eine Störung, wäre man davon nicht betroffen. "Ich finde, das hört sich gut an", sagt Englich. Aber Landrat Niedermaier winkt ab: Grünwald? Da müsse man zusammen mit dem Landkreis München an einer Buslinie basteln. Das sei zum einen kompliziert - und zum anderen gebe es eine ähnliche Verbindung schon, nämlich zum S-Bahnhof Deisenhofen. Gneist jedoch findet das nicht ganz überzeugend: "Wenn auf der Stammstrecke was ist, nutzt es mir auch nichts, wenn ich dann in Starnberg oder Deisenhofen warte", kritisiert sie.

Der Bus kommt zum Stehen, Zeit für eine kurze Verschnaufpause in Bad Tölz. Während die meisten draußen Luft schnappen, winkt Monika Scherer, die Rollstuhlfahrerin, den Grünen-Kandidaten Koch zu sich heran. In seinem Wahlprogramm steht die Barrierefreiheit als ein Anreiz für den Umstieg auf den ÖPNV, doch Scherer sieht noch viel Luft nach oben. Ob bei den Entscheidungen zum Umbau überhaupt betroffene Menschen miteinbezogen würden? Koch erklärt das Konzept der DIN-Normen, lässt aber gleichzeitig durchblicken, dass er die Maßnahmen für zu oberflächlich hält: kontrastreiche Bodenfarben, Lautsprecheransagen - man müsse Barrierefreiheit bis ins letzte Detail durchdenken, so Koch.

Bereits auf dem Hinweg hatte Landrat Niedermaier angedeutet, dass es an der Umsetzung der Barrierefreiheit hapere. Zwar führten die Gemeinden eigene Haltestellenkataster, doch der Umbau laufe "extrem zäh". Das bekommt Markus Ertl tagtäglich zu spüren: Der Lenggrieser ist fast blind, kämpft weit über die Region hinaus für Inklusion. So sei der zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) in Tölz überhaupt nicht barrierefrei. Wegen des Kopfsteinpflasters könne man mit dem Rolli dort überhaupt nicht fahren, beklagt sich Ertl. Ein Beispiel, das zeigt, wie sehr sich verschiedene Interessen in die Quere kommen: Denn bei der Gestaltung des Bodens am ZOB hätte der Denkmalschutz eine große Rolle gespielt, erklärt Niedermeier. Das könne er noch aus seiner Zeit als Tölzer Bürgermeister sagen.

Die Sachlage ist also kompliziert. Dabei wird Barrierefreiheit in Zeiten einer alternden Bevölkerung immer wichtiger. "Bald wird ein Viertel über 65 Jahre alt sein", mahnt Koch. Und Cetin knetet ihre Hände. Barrierefreie Verbindungen stehen auch in ihrem Wahlprogramm. Sie moniert, dass es zu wenige konkrete Maßnahmen gibt: "Wenn man nur in der Sprachschleife drin ist, passiert nichts", so Cetin. So wie eben am Bussteig des Wolfratshauser Bahnhofs. Dieser sei das beste Beispiel dafür, "dass niemand nachgedacht hat", wie Monika Scherer schon auf der Busfahrt gesagt hat. Anderthalb Stunden später rumpelt sie langsam über das Steinpflaster - und der 379er fährt ihr quasi vor der Nase davon.

© SZ vom 29.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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