SZ-Adventskalender:"Wir müssen irgendwie weiterleben"

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Kriege und Konflikte überschatten die Geschichte Afghanistans, vor allem in jüngerer Zeit. Manche wagen deshalb den beschwerlichen Weg der Flucht. Doch ein Neustart in einem anderen Land ist nicht einfach. (Foto: Rahmat Gul/dpa)

Milad R. und seine Frau sind aus Afghanistan geflohen. Zwölf Jahre und viele traumatische Erlebnisse später haben sie ihre Anerkennung erhalten und eine Wohnung gefunden. Doch trotz Arbeit reicht das Geld nicht für die nötigen Anschaffungen, die der Neustart erfordert

Von Marie Heßlinger, Bad Tölz-Wolfratshausen

Milad R. ( Name von der Redaktion geändert) und seine Frau haben viele Jahre darum gekämpft, dass beide hierzulande arbeiten dürfen. 2009 sind sie aus Afghanistan geflohen, erst vier Jahre später kamen sie nach Deutschland. Weil die Geflüchteten zunächst keine Arbeitserlaubnis bekamen, wurden die beiden erst einmal ehrenamtlich tätig - sie als Übersetzerin für Afghaninnen bei Arztbesuchen, er in einem Pflegeheim. Jetzt haben sie endlich eine Anerkennung erhalten und damit ein Abschiebeverbot, die Zeit des nervenzerrüttenden Wartens und der Unsicherheit scheint für die Familie vorbei. Doch mit der Anerkennung mussten sie auch aus der Asylunterkunft ausziehen - und für den Neustart im Leben Schulden aufnehmen. Noch immer fehlen ihnen zahlreiche Alltagsgegenstände zum Leben, wie etwa ein Laptop, ein Staubsauger, ein Bügeleisen oder Kleidung.

"Ich arbeite, und meine Frau besucht jetzt einen Deutschkurs", sagt der 37-Jährige. "Das Gehalt, das ich verdiene, ist ein bisschen knapp für die Familie." Zusammen haben Milad R. und seine Frau vier Kinder. Ihre Freude war groß, als sie, nachdem sie monatelang gesucht haben, nicht nur eine Anerkennung, sondern endlich auch eine Wohnung auf dem teuren und umkämpften Markt im Oberland fanden. "Viele vergeben keine Wohnung an Ausländer", sagt R. nach den Erfahrungen, die er bei der Suche gesammelt hat.

Damit die vier Kinder die neuen Nachbarn nicht stören würden, kauften sie gleich Teppiche. Und auch Möbel mussten her. Milad R. lieh sich dafür 4000 Euro von seinem Cousin. Das Geld wird er diesem nun nach und nach zurückbezahlen. Es ist ihm unangenehm. "Bei Freunden will ich nicht ausgelacht werden", sagt er. "Ich versuche, wenn es geht, keine Hilfe zu verlangen. Aber manchmal kommt im Leben so eine Situation, in der man hilflos ist."

Die Möbel und Teppiche sind so nun da. Doch dringend braucht die Familie einen weiteren Laptop, um auch in der Corona-Krise weiter arbeiten zu können. Der älteste Sohn hat bereits einen Computer für den Distanzunterricht in der Schule. Da nun aber der Deutschunterricht der Mutter ebenfalls wieder online stattfindet, braucht auch sie einen arbeitsfähigen Computer. Es ist, das wissen die beiden, ein großer Wunsch, der unter normalen Umständen gut noch ein bisschen aufschiebbar gewesen wäre, bis sie selbst sparen können. Doch die Pandemie und die damit einhergehende Umstellung auf Digitalisierung macht Anschaffungen wie diese unabdinglich. Dabei wären auch ein Staubsauger gut, ein Bügeleisen, sowie Kleidung für die Kinder. Und einen Kühlschrank hat die Familie noch keinen eigenen.

Mehr als die finanziellen Schwierigkeiten beschäftigt die beiden Eltern ihre Vergangenheit. Es sei sehr schwierig gewesen, mit nichts als einem Rucksack in einem fremden Land anzukommen, von null anzufangen, während aus dem eigenen Land nur Schreckensnachrichten herüberschwappten. "Es gibt keine Stunde, in der wir nicht an unsere Heimat denken", sagt R. "Wir haben viele, viele Familienmitglieder verloren." Diese Verletzungen müssten sie für immer in sich tragen. "Aber wir müssen irgendwie weiterleben."

© SZ vom 30.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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