Zugunglück vor 62 Jahren:"Irgendwann hat es einen Rums getan"

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Das S-Bahn-Unglück vom Februar in Schäftlarn hat bei Karl-Otto Saur Erinnerungen wachgerufen: an einen Unfall der Isartalbahn 1960 auf derselben Strecke, den er als Bub erlebt hat.

Von Marie Heßlinger, Baierbrunn / Schäftlarn

Valentinstag 2022, 16:35 Uhr: Die S-Bahn nach Wolfratshausen nimmt nach einem Halt im Bahnhof Ebenhausen wieder Fahrt auf. Wenige Sekunden später: ein Knall. Die S7 ist in auf eingleisiger Strecke die entgegenkommende Bahn nach München gekracht. Ein 24-Jähriger stirbt, 18 Menschen sind verletzt. An was sich in den darauffolgenden Tagen des Entsetzens kaum jemand erinnert: Vor 62 Jahren gab es einen Unfall, der dem jüngsten Vorfall erstaunlich ähnelt.

Donnerstag, 27. Oktober 1960. Karl-Otto Saur, damals 16 Jahre alt, steigt in Pullach in den Zug in Richtung Ickinger Gymnasium. "Irgendwann hat es einen Rums getan", sagt der heute 78-Jährige. "Ich war mit zwei oder drei Mitschülern im Waggon und dann sah ich, dass die ganze Lokomotive umgefallen war."

Karl-Otto Saur war 16 und ein Passagier, als sich das Zugunglück von Baierbrunn ereignete. Er war 78, als sich eine ganz ähnliche Katastrophe 2022 ganz in der Nähe seines Hauses in Ebenhausen abspielte. (Foto: Hartmut Pöstges)

Karl-Otto Saurs Zug stand zu diesem Zeitpunkt im Bahnhof Baierbrunn. Er wartete darauf, seinen Weg in Richtung Wolfratshausen fortzusetzen, als ihm der Zug in Richtung München wie geplant entgegenkam. Kurz bevor der entgegenkommende Zug jedoch an ihm vorbeigezogen war, stürzte dessen hinterer Waggon auf die Lok des stehenden Zuges.

Karl-Otto Saur stieg aus seinem Abteil aus. "Aus dem hinteren Wagen kamen Schreie." Der 16-Jährige krabbelte zwischen den beiden Zügen hindurch und stellte sich auf einen Vorsprung. "Ich habe auch keine Sekunde darüber nachgedacht, ob man jetzt unter diesem schrägstehenden Wagen durchlaufen kann."

Der Teenager versuchte, die Schiebetür eines schräg liegenden Wagens zu öffnen. "Ich war schon damals ein ziemlicher Schwächling - unsportlich und sonst was", sagt er. "Aber zu meinem großen Erstaunen habe ich es geschafft, die Türe aufzuschieben. Sie war verdammt schwer." Mehrere unverletzte Menschen seien aus dem Waggon gestiegen, ohne Saur weiter zu beachten. "Die waren aufgeregt für sich."

"Wie ein Haufen Elend lief der Stationwärter umher"

Saur selbst bewahrte Ruhe. Rettungskräfte seien erst spät gekommen, an Polizisten kann er sich nicht erinnern. "Wir waren nicht besonders neugierig", sagt Saur über seine Mitschüler und sich. Doch an einen Menschen erinnert er sich noch: "Wie der Stationwärter wie ein Haufen Elend rumgelaufen ist und vor sich hingestammelt hat: Hoffentlich stirbt sie nicht, hoffentlich stirbt sie nicht!" Er meinte eine schwer verletzte junge Frau.

Saur und seine Mitschüler machten sich zu Fuß auf den Weg nach Icking. Als sie nach zehn Kilometern Fußmarsch mit großer Verspätung in der Schule dort ankamen, interessierte sich kaum jemand für den Unfall. Auch in den Zeitungen sei im Nachhinein kaum darüber berichtet worden, sagt Saur.

Einer aber glaubt, sich an die 14-Jährige zu erinnern

"Holz- und Blechteile flogen durch die Luft, und die Fahrgäste wurden quer durch den Wagen geschleudert, als gestern früh gegen sieben Uhr der letzte Wagen des plan mäßigen Personenzugs Richtung München im Bahnhof Baierbrunn gegen eine Lokomotive prallte", schrieb die Süddeutsche Zeitung am darauffolgenden Tag. "Die ersten Ermittlungen haben ergeben, dass vermutlich eine vorzeitig umgestellte Weiche das Unglück verursachte."

In der Abendzeitung erfuhr man ebenfalls am darauffolgenden Tag: Die Zahl der Verletzten sei auf 20 hochkorrigiert worden. Die Schwerverletzte - eine 14-Jährige - befinde sich noch in akuter Lebensgefahr. Ein Reporter des Boulevardblattes besuchte den Fahrer der getroffenen Lock in seiner Münchner Wohnung. In letzter Sekunde war er aus dem Führerhäuschen gesprungen, bevor der Waggon auf das vordere Zugteil krachte. "Wäre ich noch drin gewesen, ich weiß nicht, ob ich Ihnen noch antworten könnte", sagte der Lokführer dem Reporter. Und: "Bewunderungswürdig benahmen sich die übrigen Reisenden, die den Verletzten sofort zur Hilfe kamen."

Karl-Otto Saur war einer dieser Reisenden. Ob die schwerverletzte 14-Jährige den Unfall überlebt hat, weiß er nicht. Vonseiten der Deutschen Bahn, der Bundespolizei und der Münchner Polizei heißt es, dass ihnen keine Dokumente mehr zur Verfügung stünden. Einer aber glaubt sich an die 14-Jährige zu erinnern.

Auch Alois Auer ist Zeitzeuge des Unfalls in Baierbrunn 1960. (Foto: Hartmut Pöstges)

Alois Auer war selbst gerade 14 Jahre alt und saß in dem gerade in Baierbrunn eintreffenden Zug in Richtung München, als sein Wagen auf den stehenden Zug kippte. Er war auf dem Weg zu seiner Ausbildungsstelle in Großhesselohe, zusammen mit Freunden spielte er Schafkopf. "Das war der Morgenzug, der war voll", erinnert er sich. "Da sind die Leute auf der Brüstung gestanden."

Mit einem Mal stürzten er und seine Freunde auf die andere Seite ihres Abteils. "Alles flog durcheinander", erinnert Auer sich. "Ich habe überall blaue Flecken gehabt." Als er und seine Freunde begriffen, was geschehen war, stiegen sie zum Fenster aus und halfen den älteren Passagieren. Das 14 Jahre alte Mädchen, das dabei lebensgefährlich verletzt worden war, sah Auer in diesem Moment nicht, aber er hatte sie zuvor schon oft gesehen.

"Da waren immer dieselben Leute dringehockt", erinnert sich Auer an die allmorgendlichen Zugfahrten. Jeder habe seinen Platz gehabt, an den er sich immer gesetzt habe. Das Mädchen sei im letzten Abteil gesessen, jenes, das auf die Lok gekracht war. Eine Scheibe sei eingebrochen. Sie habe die Splitter abbekommen, glaubt Auer sich zu erinnern. Ihr Ohr sei von einer Scherbe durchtrennt worden. Hat sie den Unfall überlebt?

Auer glaubt, dass es auch für sie glimpflich ausging. Das Ohr habe wieder vernäht werden können, glaubt Auer gehört zu haben. Aber im allmorgendlichen Zug hat er sie nie wieder gesehen.

Die Zusammenstöße zweier Züge zwischen München und Wolfratshausen am 14. Februar 2022 und am 27. Oktober 1960 waren nicht die einzigen Vorfälle auf dieser Strecke. 1913, auf dem Weg von Wolfratshausen nach Icking, lag ein Felsbrocken auf den Schienen. Die Lok kippte um, die Wägen entgleisten. Keiner war verletzt. 1976 prallte im Bahnhof Baierbrunn ein Zug auf einen leerstehenden abgestellten S-Bahn-Zug. Die Fahrgäste blieben unverletzt. 1993 gab es, genau wie 2021, eine Beinahe-Kollision zweier S-Bahn-Züge auf eingleisiger Strecke zwischen zwischen Icking und Ebenhausen. Beide Male kamen die Züge rechtzeitig zum Stehen. 2004 wurde ein Ehepaar im Auto am Bahnübergang in Buchenhain vom Zug erfasst und kam ums Leben.

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