Schäflarner knüpfen an alte Tradition an:Bäumchen für den Sortierer der Schöpfung

Lesezeit: 5 min

Im Ortsteil Ebenhausen feierten im 19. Jahrhundert hunderte Akademiker einen rätselhaften Kult um den Naturforscher Carl von Linné. Eine Eiche soll nun daran erinnern.

Von Marie Heßlinger, Schäflarn

Vor rund 200 Jahren wurde das kleine Ebenhausen zum Zentrum einer ausgelassenen Feier: Studenten und ihre Dozenten strömten jeden Mai dorthin, sie hielten Reden und trugen Gedichte vor, sie sangen, tanzten und stießen an: auf den Geburtstag des schwedischen Naturforschers Carl von Linné. Am Samstag haben die Grünen in Schäftlarn zum Tag des Baumes eine Eiche gestiftet, die an die alte Tradition anknüpfen könnte.

Acht Bäume haben einige Schäftlarner ihrer Gemeinde zum Tag des Baumes geschenkt. Wegen der Pandemie pflanzten sie diese am Wochenende ohne Zuschauer und Gäste. Unter den Setzlingen eine Linde von Bürgermeister Christian Fürst (CSU), und ebenjene Eiche des Ortsverbands der Grünen, die nun am Kriegerdenkmal in Ebenhausen steht - und der hoffentlich mehr Glück beschieden ist als ihrer Vorgängerin.

Es war ein Lehrer der Münchner Hochschule, der am 24. Mai 1828 leise am Tisch den Vorschlag machte, vielleicht ein Bäumchen zu pflanzen. Die Feier in Ebenhausen war in vollem Gange, der Tisch gedeckt, mit Blumengirlanden überall. Am Kopfende der Tafel das Bildnis des verehrten, bereits verstorbenen, Geburtstagskindes Carl von Linné.

Noch am Morgen hatten die Studenten - zur damaligen Zeit allesamt Männer - ihren Hörsaal mit Blumen geschmückt aufgefunden. "Linné's Bildnis, mit einem Kranze von Linden-, Eichen-, Sinngrün- und Lorbeerblättern umwunden, nahm an diesem Tage die Höhe des Lehrstuhles als seines wahren Thrones ein", war in der Zeitschrift Flora darüber zu lesen. Gemeinsam mit ihren Dozenten hatten sich die Studenten durch das grüne Isartal auf die Wanderung nach Ebenhausen aufgemacht, wo die gedeckte Tafel auf sie wartete. Professor Carl von Martius, späterer Leiter des botanischen Gartens in München, der das Fest ein Jahr zuvor ins Leben gerufen hatte, hatte seine Rede gehalten. Die fröhliche Runde hatte dreimal ihr Lied über Linné, "der Pflanzen Brautgemach", gesungen, als die Idee, eine Eiche zu pflanzen, auf Begeisterung stieß. Der Baum sollte Zeuge des Festes sein, das nun jedes Jahr stattfinden sollte.

"Kaum war dieser Wunsch ausgesprochen, als sich alle von Begeisterung getrieben erhoben und die Ausführung des Werkes verlangten. Der, wie durch höhere Fügung anwesende und an dem Feste, als wahrer Naturfreund Anteil nehmende Herr Forstmeister von Mettingh gab hierzu gerne seine Zustimmung. Es ist kaum glaublich, wie die jungen Männer wetteiferten, die nötigen Instrumente herbei zu schaffen, eine schöne, junge Eiche, und einen geeigneten Ort zu ihrer Anpflanzung aufzusuchen", schrieb die Flora.

Wo die fröhliche Truppe ihre Eiche genau pflanzte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Adrian Danek vermutet, dass sie am Klosterhang stand. "Das Festzelt muss in fußläufiger Nähe zur Wirtschaft gewesen sein, die später Gasthof zur Post hieß." Danek ist Mitglied der "Zwanglosen Gesellschaft", die regelmäßig über Sachthemen diskutiert. 2017 zog er nach Schäftlarn. "Wenn man irgendwo neu hinzieht, will man ja wissen, was da los ist." Der 64-jährige begann, sich durch Zeitungen und Zeitschriften der damaligen Zeit zu arbeiten - und stieß auf erstaunlich viele Artikel über das Linnéfest in Schäftlarn.

Auffallend dabei: Linné wurde gefeiert wie ein Gott. Da ist die Rede von tiefer Dankbarkeit "an den wundervollen Schöpfer" - gemeint ist an dieser Stelle vermutlich Linné, und die Rede von Jüngern, den Studenten. Ein "ehrwürdiger, güldener Becher, voll edlen Reinweins" machte die Runde, gefolgt von andächtiger Stille. Die Erinnerung an Linné "erregte in allen eine innere Wärme und Begeisterung für diesen großen Mann."

Linné wurde am 23. Mai 1756 in Schweden geboren. Sein Vater war Pfarrer, er aber schwänzte die Religionsstunden und verbrachte seine Zeit lieber in der Natur. Schließlich studierte Linné Medizin. Bekannt wurde er, weil er Flora und Fauna katalogisierte und ein Namensgebungssystem einführte, das noch heute gilt: die binäre Nomenklatur. Alle Pflanzen, Steine und Tiere bekommen zwei lateinische Namen. Den ersten für die Gattung, den zweiten für die Art. "Gott schuf, Linné ordnete", soll er über sich selbst gesagt haben.

Was jedoch veranlasste Akademiker aus aller Welt dazu, noch 80 Jahre nach seinem Tod seinen Geburtstag zu feiern? Nicht nur in München und Schäftlarn, auch in Uppsala, Paris und New York wurde Linné gefeiert. Diese Frage fand auch Danek am Interessantesten. "Ich verstehe nicht, warum man diese Feste überhaupt gefeiert hat", sagt er. Die Diskussionen nach Daneks Vortrag in der "Zwanglosen Gesellschaft" brachten keine klare Antwort. Vor allem in Frankreich sei Linné verehrt worden, vielleicht weil es etwas sehr "Antiklerikales und Aufklärerisches" hatte, die Schöpfung "aufzuräumen", spekuliert Danek.

Will Beharrell, Mitarbeiter der Linné-Gesellschaft in London, hat indes den Eindruck, dass Linné in Deutschland einen besonders hohen Stellenwert hatte. Beharell vermutet, dass es Linné selbst war, der durch seinen Sprachgebrauch, wenn er seine Studenten als Apostel bezeichnet hatte, jene Art der Verehrung angespornt hatte. Der Bibliothekar glaubt aber auch, dass die Studierenden in Ebenhausen in einer euphorischen Stimmung waren, in der ihnen die Lobpreisungen unbeschwert und nicht ohne ein Augenzwinkern über die Lippen kamen. Waren es also der Frühling und das Bier, das ihnen in die Köpfe stieg?

Vielleicht ist es auch ein Flora-Artikel aus dem Jahr 1832, der eine weitere Antwort liefert: "In einem Augenblicke großer Zerrissenheit, wo so viele Menschen, vom Wurm zagenden Zweifels geneigt, mit sich zerfallen sind, wo aus den Zerwürfnissen der menschlichen Gesellschaft eine unheilvolle Zukunft hervorzugehen droht, gewährt es mehr, als zu jeder anderen Zeit, Trost und Beruhigung, den müden Blick von dem Gewirre unseligen Zwiespaltes abzuwenden, und ihn auf die nach ewigen Gesetzen waltende Natur zu richten, wo unwandelbare Ordnung herrscht."

Die Ordnung der Natur als Zufluchtsort? 1789 fand mit der Französischen Revolution der Gedanke der Aufklärung Einzug in Europa, und damit der Ruf nach Freiheit und Vernunft. Napoleon eroberte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, enteignete die Kirchen - das Schäftlarner Kloster wurde zur Badeanstalt. Bald begann sich unter der Fremdherrschaft ein deutsches Nationalbewusstsein zu entwickeln. Als Napoleon den Feldzug gegen Russland verlor und 1814 ins Exil floh, traten die Fürsten und Könige im Deutschen Bund zusammen - im Zweifel wollten sie sich gegenseitig bei der Bekämpfung aufständischer Bürger helfen. Die Rufe des Bürgertums nach Demokratie, einer Verfassung und Menschenrechten wurden derweil immer lauter. Kritiker wurden verfolgt, Zeitungen zensiert, Burschenschaften verboten. In der Kunst besann sich das Bürgertum im Biedermeier auf das traute Heim, oder in der Romantik auf die Mystik der Natur. "Die ganzen freiheitlichen Ideen, die zu Napoleons Zeiten aufgekommen waren, sind in den Hintergrund getreten und man hat sich mit dem Naturgefühl und dem kleinen bürgerlichen Leben zufrieden gegeben", sagt auch Danek.

Dass ausgerechnet Ebenhausen das Ziel der Wanderer wurde, die bald zu zwei Hunderten kamen, liegt wohl an dessen malerischer Lage: Es ist die Rede von einer Anhöhe, auf der das Mittagsmahl eingenommen wurde, mit Blick auf das "romantische Isartal im Vordergrunde" und den Alpen im Hintergrund. "In der damaligen Zeit war das Isartal sehr naturbelassen und unberührt", sagt Danek. "Wenn man aus München in die Natur wollte, ist man die Isar entlanggewandert."

Bis 1862 feierten die Studierenden mit ihren Dozenten das Fest zu Ehren Linnés und der Natur. Warum es dann nicht mehr fortgeführt wurde, weiß Danek nicht. Carl von Martius starb 1868. Die Linné-Eiche ging schon um 1842 ein. Baumpatin der neuen Eiche in Ebenhausen ist Tochter des Grünen-Gemeinderates Fabian Blomeyer: Linnéa Blomeyer, benannt nach der Lieblingsblume Linnés.

© SZ vom 15.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: