Schule trotz schwerer Krankheit:Wie lernt es sich mit Roboter

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Familienzusammenhalt im Sommer 2023 (v.l.): Vater Josef, Bruder Maxi, Leonard und Mutter Jennifer Berger. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Leonard Berger erkrankt im Sommer 2022 an Lymphdrüsenkrebs. Neun Monate lang muss sich der 13-Jährige zuhause isolieren. Dennoch kann er sich in der Schule zu Wort melden und sehen und hören, was sich im Unterricht tut: dank eines Avatars. Über den Umgang damit und das Leben nach der Krankheitsdiagnose.

Von Benjamin Engel, Sachsenkam

Wie verändert es eine Familie, wenn der jüngere der beiden Söhne plötzlich an Krebs erkrankt? Zerbricht daran der Zusammenhalt? Löst das Verbitterung und große Trauer aus? Wollen alle eine so niederschmetternde Diagnose lieber verschweigen und ziehen sich sozial zurück?

Familie Berger aus Sachsenkam hat sich umgekehrt entschieden. Alle gingen ganz offen damit um, als der damals 13-jähriger Leonard am Hodgkin-Lymphom - einer Form des Lymphdrüsenkrebs - erkrankte. "Es hilft ja nichts", sagt Vater Josef Berger. Gerade diese positive Grundeinstellung, das beste selbst aus einer lebensbedrohlichen Situation machen zu wollen, scheint die Familie zu verbinden.

So wirkt es zumindest, als die Eltern und ihre beiden Söhne elf Monate nach der Diagnose bei Kaffee und Kuchen im Garten sitzen. Ihr Sohn Leonard ist zu diesem Zeitpunkt krebsfrei. Wenn Mutter Jennifer im Gespräch manchmal leicht zitternd zu reden beginnt, wird zwar deutlich, wie emotional belastend das vergangene Jahr war. Doch sie sagt auch: "Ich frage mich nicht, warum das passiert ist." Und Sohn Leonard, inzwischen 14 Jahre alt, reagiert zumindest nach außen ganz gelassen. "Ich habe immer gesagt, es ist wie ein Schnupfen. Es dauert bloß lange, bis ich wieder gesund bin."

Sechs Zyklen Chemotherapie und Isolation

Als Leonard am letzten Schultag vor den Sommerferien 2022 noch einmal zur Gaißacher Mittelschule geht, hat er Fieber. "39,8 Grad", wie er selbst sagt. Trotz Medikamenten geht die Temperatur zwar in den folgenden Tagen tagsüber hinunter, abends regelmäßig wieder rauf. Im Blutbild stellt der Kinderarzt erhöhte Entzündungswerte fest, Erkältungssymptome sind nicht erkennbar. Der linke Lymphknoten schwillt aber golfballgroß an. Auf der Kinderstation im Garmischer Krankenhaus erklärt ein Arzt, dass es sich entweder um einen Infekt oder etwas Bösartiges handele.

Leonard wird in die kinderonkologische Abteilung im Krankenhaus München-Schwabing verlegt. Mitte August steht die Krebsdiagnose fest: Hodgkin-Lymphom im schwersten von vier Stadien. Das bedeutet sechs Zyklen Chemotherapie mit anschließender Bestrahlung - und damit abseits der medizinischen Behandlung monatelange weitgehende Isolation, um Ansteckungsgefahren zu reduzieren.

Ein Schulbesuch nach Ende der Sommerferien ist damit undenkbar. Und doch konnte Leonard mit seinen Klassenkameraden in der achten Jahrgangsstufe sogar dem Unterricht folgen, sehen, was im Unterricht passiert. Wie das unter den Umständen überhaupt möglich war?

Im Klassenzimmer steht ein 30 Zentimeter-Roboter

Die Antwort ist ein Avatar. Es handelt sich um ein etwa 30 Zentimeter großes, weißes Gerät mit stilisiertem Kopf auf einem Brusttorso - samt Video-, Sprech- und Hörfunktion. Leonards Mitschüler stellten den Avatar auf seinen Platz im Klassenzimmer, so dass er den Unterricht mitverfolgen konnte.

Mittels Tablet konnte der damals 13-jährige das Gerät von seinem Zimmer zuhause aus steuern, dessen Kopf sogar um 360 Grad drehen. Mit Hilfe des Augendisplays samt Brauen konnte er anzeigen, wie es ihm geht. Ob er traurig ist, sich freut oder verärgert ist. Ließ Leonard den Kopf grün blinken, zeigte er damit an, dass er sich meldet. "Wenn ich nicht angesprochen werden wollte, habe ich es permanent blau leuchten lassen", sagt der Jugendliche. Denn zu den neun Monaten in Isolation gehört auch, dass es Leonard oft schlecht ging. Insbesondere die Chemotherapie war körperlich anstrengend. Dann war er schlapp und schlief viel. Um durchzuhalten, hat der Avatar aber geholfen. Sogar zu einer Veranstaltung in der Schulaula nahmen die Klassenkameraden das Gerät. "Da haben sie sogar ein Stück für mich gespielt", berichtet Leonard.

Zwei Avatare stehen im Landkreis zur Verfügung

So spielte der Avatar eine wichtige Scharnierfunktion zum für Kinder und Jugendliche prägenden Schulalltag. Zwei davon kann das Medienzentrum des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen inzwischen in Krankheitsfällen wie dem Leonhards bereitstellen. Laut Landratsamt kostet ein Avatar 3000 Euro. Zusätzlich ist eine monatliche Servicepauschale in Höhe von 80 Euro für Updates und die SIM-Verbindung zu zahlen. Die Kosten übernimmt das Medienzentrum, also der Landkreis. Gibt es schlechtes oder kein Wlan kann sich der Avatar über das Mobilnetzwerk verbinden. Das erlaubt es, das Gerät auch in den Schulhof oder zu Ausflügen mitzunehmen.

Der Junge aus Sachsenkam konnte als erstes Schulkind im Landkreis einen Avatar nutzen. Allerdings nur von zuhause aus. Da er im Krankenhauszimmer nicht immer alleine war, durfte Leonard von dort aus Datenschutzgründen nicht am Unterricht teilnehmen.

"Es fühlt sich an, als wäre er nie weg gewesen", sagt die Lehrerin

Zu seinem Avatar kam Leonard, nachdem seine Mutter die Schule über die Krankheit informiert hatte. Claudia Zacherl vom Medienzentrum des Landkreises stellte schließlich im September 2022 in einer Konferenz vor Schulleitern das Gerät vor. Darauf meldete Stephanie Eckert, Rektorin der Gaißacher Grund- und Mittelschule, Bedarf an. Leonards Lehrerin Cornelia Brust integrierte den Avatar im Klassenzimmer. Der beste Freund des Jungen kümmerte sich darum, dass das Gerät immer am Platz stand, aufgeladen war und im Schulalltag immer mitkam.

"Es fühlte sich an, als wäre er nie weg gewesen. Wir wussten immer alle, wie es ihm geht", erklärte daher Lehrerin Cornelia Brust, nachdem Leonard nach den diesjährigen Osterferien wieder ganz normal in den Unterricht gehen konnte.

Leonard Berger mit seinem Avatar, der Rektorin der Grund- und Mittelschule Gaißach, Stephanie Eckert (li.) und Claudia Zacherl vom Medienzentrum des Landkreises. (Foto: Hillmann/Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen)

Die Familie Berger hat sich unterdessen wieder halbwegs in ihrem Alltag eingerichtet. Leonard kann wieder beim SV Sachsenkam Fußball spielen, mit Freunden zum Schwimmen gehen und seinen geliebten Döner essen. Denn auf scharf gewürzte Speisen musste er während der Chemotherapie verzichten. Umso schöner sei der erste Bissen nach Behandlungsende gewesen, sagt er.

Seine Eltern sind froh, dass sie nie von anderen wegen der Krankheit ihres Sohnes geschnitten wurden. "Alle waren sehr hilfsbereit", sagt Vater Josef Berger. Bekannte aus dem Sportverein hätten für Leonard sogar ein von der Fußballmannschaft des TSV 1860 München unterschriebenes Trikot organisiert.

Soziale Ausgrenzung gab es nie, sagen die Eltern

Äußerst verständnisvoll habe sich auch das Führungsteam seines Arbeitgebers Hawe Hydraulik aus Sachsenkam verhalten. Für das Unternehmen arbeite Josef Berger im Wareneingang, dem Lager und der Logistik. Wenn er seinen Sohn zu Untersuchungen und medizinischen Terminen fahren musste, habe er jederzeit weggekonnt, sagt er. Seine Frau, die für dieselbe Firma als Disponentin arbeitet, durfte sogar dauerhaft im Home Office arbeiten. So konnte sie für ihn Sohn immer da sein, übernachtete während der für die Chemotherapie notwendigen stationären Aufenthalte sogar in der Klinik.

Leonard Berger hat sich seine positive Lebenseinstellung bewahrt - und geht mittlerweile viel lieber zur Schule. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Fast ein Jahr nach den ersten, nach Bemerken der ersten Krankheitssymptome freut sich die Familie jetzt erst einmal auf einen gemeinsamen, vierwöchigen Reha-Aufenthalt auf Sylt. Für Leonard kommt es nun darauf an, die nächsten fünf Jahre gut zu überstehen. Danach gilt er als vom Krebs geheilt. Doch schon jetzt hat sich seine Einstellung geändert, etwa zur Schule. Wenn einer seiner Klassenkameraden behauptet, er wolle krank werden, um nicht zum Unterricht zu müssen, sagt er jetzt immer: "Sei froh, dass Du gesund bist. Wenn Du einmal nicht darfst, dann möchtest Du erst recht zur Schule gehen."

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