Reichersbeurer Schule gedenkt im Sinne von Primo Levi:" ... und folglich kann es wieder geschehen"

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22 Mahnmale erinnern seit 1989 an den Dachauer Todesmarsch. Sie stammen von Hubertus von Pilgrim. (Foto: Hartmut Pöstges)

Das Max-Rill-Gymnasium stellt zur Erinnerung an den Dachauer Todesmarsch eine filmische Collage ins Netz

Von Felicitas Amler, Reichersbeuern

Schwere Steine, nackte Füße, kahle, geduckte Köpfe - langsam, geradezu bedächtig wechseln die Bilder, dazu erklingen dunkle, schmerzvoll-getragene Akkorde vom Klavier. Worte schälen sich aus der filmischen Collage: "Würdig", "Tausende" ... Mit Aufnahmen des Mahnmals, das der Bildhauer Hubertus von Pilgrim geschaffen hat, beginnt ein eindrucksvoller Beitrag des Max-Rill-Gymnasiums zum Gedenken an den Todesmarsch der Dachauer KZ-Häftlinge vor 75 Jahren.

Nikolaus Frei, Leiter der Theatergruppe der Reichersbeurer Schule, hat das digitale Video konzipiert und Regie geführt. Der Musiklehrer und stellvertretende Schulleiter Heinrich Bentemann hat es musikalisch geplant und spielt das Klavier. Die Schüler Carl Dahm, Alexander Schmidt, Konstantin von Schwerin und Andre Stapelfeldt sprechen Texte von Zeitzeugen.

Der berüchtigte Dachauer Todesmarsch, auf den die SS in den letzten Kriegstagen Tausende ausgemergelte Häftlinge schickte, hat Reichersbeuern im doppelten Wortsinn berührt. Er führte kurz vor der Befreiung in Waakirchen noch durch den kleinen Ort. Und dort ereignete sich eine winzige und doch so eindringliche Episode, die Jahrzehnte später zwei Menschen zusammenführen sollte, die damals eigentlich auf verschiedenen Seiten standen.

Beim Marsch durch Reichersbeuern kreuzt der damals 14-jährige Friedel Kunstwald, bekennender Hitlerjunge, im Schießen ausgebildet an der SS-Junkerschule in Bad Tölz, den Weg der Elendsgestalten. Der litauische Häftling Zwi Katz, der aus dem Außenlager Kaufering eine kleine Ziehharmonika mitgebracht hat, hält dem Jungen das Instrument hin und spricht ihn an: "Da, nimm. Brot!" Und das kleine Wunder geschieht.

Der Bursche rennt zurück ins Elternhaus, bittet seine Mutter um ein Stück Brot und reicht es dem Häftling. Natürlich geht die SS sofort dazwischen, aber mit Hilfe von Zwi Katz verdrückt sich der Junge durch die Menge.

Verfolgte Künstler

Als sich Zwi Katz Jahrzehnte später auf die Spur seiner Leidensgeschichte in Südbayern begibt, trifft er auch auf Friedrich Kunstwald. Er ist Inhaber des Lebensmittelgeschäfts in Reichersbeuern. Die beiden schließen Freundschaft. Und treten gemeinsam 1995 - es ist der 50. Jahrestag der Befreiung - als Zeitzeugen im Max-Rill-Gymnasium auf. Die Texte von damals dienten nun als Grundlage für das Gedenkvideo zum 75. Jahrestag.

Dazu kommen andere Zeitzeugenberichte, Lieder der in Auschwitz ermordeten jüdischen Dichterin Ilse Weber ("Ich wandre durch Theresienstadt", "Und der Regen rinnt"), Musik des ebenfalls in Auschwitz gestorbenen jüdischen Komponisten Viktor Ullmann und Auszüge aus der Klaviersonate "27. April 1945" des antifaschistischen Komponisten Karl Amadeus Hartmann. Nikolaus Frei hat dies mit Impressionen aus der KZ-Gedenkstätte Dachau, Bildern aus Reichersbeuern, Aufnahmen der lesenden Schüler und singenden Schülerinnen sowie einer angesichts der Verbrechen bizarr akribischen Bezifferung der SS von Gruppen und Marschblöcken ("Aufstellung der Evakuierten am 26.4.1945") zu einem Film arrangiert. Alle Beiträge wurden unter Corona-Bedingungen aufgenommen, die meisten bei und von den Schülern selbst zu Hause in Videoschaltungen mit dem Regisseur. Frei sagt, ein Film, der mit Hilfe von Facetime und WhatsApp entsteht, sei da natürlich ein Kompromiss. Aber ihm sei es wichtig gewesen, eine Atmosphäre zu schaffen, "aus der man etwas lernt".

Was, das darf man aus Anfang und Ende schließen. Der Film beginnt mit dem Mahnmal, welches das unglaubliche Leid vor Augen führt. Und er endet mit einer Mahnung, mit den Worten des italienischen Shoa-Überlebenden Primo Levi: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen."

www.max-rill-gym.de (dort unter "Neuigkeiten")

© SZ vom 04.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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