Pflegender Ehemann:"Wie man zum Pfarrer sagt: in guten und in schlechten Zeiten"

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Neben dem Foto von Anneliese Sailer stehen eine Kerze und eine Engelfigur. "Ein Tag ohne Dich ist sinnlos und leer. Ich schreie in den Wind: Du fehlst mir so sehr", hat Hans Sailer unter das Bild geschrieben. (Foto: Hartmut Pöstges)

Hans Sailers Ehefrau hatte Multiple Sklerose. Er pflegte sie mehr als 30 Jahre lang bis zu ihrem Tod. Dafür bekommt er nun das Bundesverdienstkreuz.

Von Konstantin Kaip, Wolfratshausen

Hans Sailer findet einfach kein Foto, das ihn zusammen mit seiner Frau Anneliese zeigt. Das ist bemerkenswert, hat er doch in den vergangenen 30 Jahren fast jeden Tag von morgens bis abends mit ihr verbracht. Anneliese Sailer hatte Multiple Sklerose und war auf die Hilfe ihres Mannes angewiesen. Er hat sie getragen, gewaschen, zugedeckt, ihr zu Essen gegeben und den Haushalt gemacht. Für seine langjährige Pflegeleistung wird er am Freitag, 4. März, von der bayerischen Sozialministerin Emilia Müller in München mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Das einzige gemeinsame Bild, das der 66-Jährige in seiner Wohnung in Waldram findet, ist ihr Hochzeitsfoto von 1971. 21 Jahre war Hans Sailer damals, seine Braut 26 - und bereits schwanger. "Uns hat's pressiert", sagt Sailer und lächelt. Ihr Sohn Mario kam kurz darauf in der Wolfratshauser Klinik zur Welt, eine Frühgeburt im sechsten Monat. "Er musste mit dem Hubschrauber nach Harlaching", erinnert sich Hans Sailer. Aber alles ging gut.

Die junge Familie lebte fünf Jahre in Neufahrn bei Egling, dann zog sie um nach Waldram. Anneliese arbeitete als EDV-Kraft in einem Büro, Hans Sailer, gelernter Elektriker, in einer Chemiefabrik. In Waldram fing es an, dass Anneliese immer wieder stolperte, erinnert sich Hans Sailer, "wie besoffen".

Das Hochzeitsfoto der Sailers von 1971. (Foto: Hartmut Pöstges)

Mit 36 bekam Anneliese Sailer die Diagnose

Sie gingen von Arzt zu Arzt, zum Heilpraktiker, aber keiner konnte die Ursache finden. 1981 schickte ihr Neurologe Anneliese Sailer zur stationären Behandlung nach Harlaching. Dort bekam die 36-Jährige die Diagnose. "Das war schon schlimm", sagt Hans Sailer. "Aber wir haben die Krankheit angenommen."

Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der die isolierende Myelinschicht der Nervenzellen zerstört wird. Ihre Ursache ist bis heute nicht geklärt. In Deutschland sind nach offiziellen Angaben mehr als 120 000 Menschen davon betroffen, doppelt so viele Frauen wie Männer. Der Verlauf kann sehr unterschiedlich sein, oft können Patienten noch jahrelang ohne große Einschränkungen leben, bei anderen äußert sich die Krankheit schubweise. Bei Anneliese Sailer wurde es kontinuierlich schlimmer - und es ging schnell.

MS-Patientin im Altenheim
:"In mir wütet ein Vulkan"

Katrin Sickert ist 47 und lebt seit einem Multiple-Sklerose-Schub vor zwei Jahren in einem Krefelder Altenheim. In ihrem Blog schreibt sie über die Spleens der Bewohner, über die Wut in ihrem Inneren - und erlaubt Einblicke in den Alltag der Alten.

Von Felicitas Kock

1985 konnte sie nicht mehr gehen, ihr Mann musste sie fortan die Treppe hoch und hinunter tragen. "Zum Glück war sie sehr leicht", sagt Sailer. Zuhause bewegte sie sich auf einem Bürostuhl fort, draußen im Rollstuhl. Irgendwann gehorchten ihr auch die Arme nicht mehr. "Am schlimmsten war es, als sie nicht mehr gescheit lesen konnte", sagt Sailer, weil ihr das Umblättern nicht mehr gelang. Geklagt aber, sagt er, habe sie nie. "Sie war nicht verbittert. Sie war eigentlich immer gut drauf und hat viel gelacht." Andere Leute hätten schlimmere Krankheiten, habe Anneliese Sailer immer gesagt.

Nachdem seine Schwiegermutter 1990 gestorben war, hat sich Hans Sailer ganz allein um seine Frau gekümmert. Sein Betrieb in Riedhof wurde von der IPA Bauchemie übernommen, die ihn unbedingt behalten wollte.

Also nahm er Anneliese fünf Jahre lang jeden Tag mit zur Arbeit, wo sie eine eigene Liege in einem Aufenthaltsraum des Büros hatte. Dann aber bekam Hans Sailer eine allergische Reaktion auf die Chemikalien und musste aufhören zu arbeiten. Fortan blieb er bei seiner Frau zu Hause, die beiden lebten von der Pflegeversicherung und von Anneliese Sailers bescheidener Rente.

"Für mich war das immer selbstverständlich"

Ein Pflegeheim sei nie eine Option gewesen, sagt Hans Sailer. "Es ist, wie man zum Pfarrer sagt: in guten und in schlechten Zeiten." Deshalb hat er auch erst gar nicht verstanden, warum er die Auszeichnung bekommt. Für seine Frau da zu sein, sagt Sailer, "das ist für mich selbstverständlich".

Im Frühling 2015 aber ging das nicht. Sailer musste selbst ins Krankenhaus, um am Bein operiert zu werden. Mit Mühe konnte er eine Kurzzeitpflege für seine Frau in Riedhof arrangieren. Dort brach sie sich den Oberarm, musste nach Murnau ins Krankenhaus. Als Hans Sailer zur stationären Nachbehandlung war, hörte er, dass seine Frau wieder in der Klinik lag: Lungenentzündung.

Sohn Mario, der an der Pforte des Kreisklinikums Wolfratshausen arbeitet, erinnert sich gut, weil er an diesem Tag Dienst hatte: Am 9. Mai wurde sie gegen 16 Uhr eingeliefert, in der Nacht darauf starb sie mit 69 Jahren. "Und ich in Tutzing", sagt Hans Sailer. "Das war schon was." Die knapp drei Monate im Frühling 2015 waren die längste Zeit, die er und seine Frau in all ihren Jahren getrennt waren.

Ein Bild auf dem Küchentisch zeigt, wie sehr Sailer seine Frau vermisst

Auf Sailers Küchentisch steht ein Foto seiner Frau mit rotem Kurzhaarschnitt, die Krankheit sichtbar an der fast waagrechten Haltung ihres Kopfes, daneben eine Kerze und eine Engelfigur. "Ein Tag ohne Dich ist sinnlos und leer. Ich schreie in den Wind: Du fehlst mir so sehr", hat Sailer unter das Bild geschrieben, aus einem Lied, das er sehr mag.

Inzwischen, gibt er zu, freue er sich doch über die Ehrung, für die sich Helene Kohlert schon 2013 beim Landratsamt einsetzte. Sie ist die Witwe des Volksschulrektors von Hans Sailer und seinem Sohn in Egling. "Wir sind stolz auf den Papa", sagt Mario Sailer, der ihn am Freitag mit seiner Frau ins Staatsministerium begleitet. "Schade, dass die Mama das nicht mehr erleben kann."

© SZ vom 04.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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