Der Wurzelsepp sitzt auf seinem Bett und sucht nach den Namen der Verstorbenen. Er will wissen, wer schon tot ist, aber dafür braucht er den Brief. Er schimpft eine Weile vor sich hin, dann springt er auf den Boden, um einen Blick unter das Bett zu werfen. Nichts. Der Wurzelsepp ist 93 Jahre alt und Katrin Sickert ist erstaunt, dass er sich noch hinknien kann. Mehrmals hat sie schon befürchtet, dass sein Name in einem Brief, auf einer Verstorbenen-Liste, stehen könnte. Dass er als Stein in einer Glasröhre im Garten landet wie alle, die vom Gerhard-Tersteegen-Haus (GTH) in Krefeld aus ihre letzte Reise antreten.
Seit zwei Jahren lebt Katrin Sickert jetzt hier im Pflegeheim, in ihrem kleinen Zimmer im zweiten Stock. Hellblauer Linoleumboden, helle Wände, ein Bett, eine Regalwand, ein Holztisch mit zwei Stühlen vor dem Fenster, zwei Rollstühle, normal und elektronisch. Und neben der Regalwand steht das, was Sickerts Zimmer von den anderen unterscheidet. Ihr Tor zur Welt. Oder zumindest zum World Wide Web: Ein rollbarer Computertisch mit PC und Drucker. Das graue Ungetüm nimmt viel Raum ein, aber das nimmt Sickert in Kauf, schließlich hat es ihr in den vergangenen zwei Jahren ganz neue Räume eröffnet.
"Meine Erlebnisse im Altenheim" heißt Sickerts Blog. Mal sachlich, mal ironisch beschreibt sie dort, wie Menschen mit Demenz mit der Zeit ihr Schamgefühl verlieren. Wie sehr ihre Mitbewohner den Besuch von Angehörigen und Freunden brauchen. Und welche schrägen Angewohnheiten sich die Leute mit den Jahren zulegen.
Die Namen der Patienten sind in den Texten abgekürzt, um ihre Anonymität zu waren. Oder verfälscht, wie beim Wurzelsepp, zu dem Sickert eine besonders innige Beziehung hat. Sie führen viele Gespräche und manchmal schafft Sickert es sogar, den Wurzelsepp davon abzulenken, dass er seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren am liebsten auch sterben würde.
"Hirntumor, Multiple Sklerose oder ein schwerer Virus"
Das Pflegeheim liegt in der Innenstadt, vom Bahnhof aus sind es nur ein paar Hundert Meter. Drei Stockwerke, die sich um einen Lichthof winden, ein kleiner Garten. Gleich nebenan liegt das schickere Seidencarré, eine Seniorenresidenz für Leute, die es sich leisten können. Der Garten ist hier liebevoller gestaltet, der Speisesaal hat etwas von einer Tafelrunde. Im Tersteegen-Haus ist alles ein bisschen nüchterner, einfacher, ein Pflegeheim für alte Leute eben - mit ruhigeren Menschen, die in ihren Stühlen vor sich hindämmern und lauteren, die man durch die geöffnete Zimmertür schreien hört, die rülpsen und furzen und andere Dinge tun, die demente alte Menschen so machen.
Das Altenheim in Krefeld.
(Foto: Felicitas Kock)Katrin Sickert senkt den Altersdurchschnitt im Heim beträchtlich. Sie ist 47 Jahre alt. Als sie im Sommer 2013 einzog, war sie schon lange krank. Zum ersten Mal hatte sich die Krankheit im Dezember 1994 gezeigt. Zwischen Weihnachten und Silvester sah Sickert plötzlich doppelt, als hätte sie zu viel Alkohol erwischt. Doch sie hatte nicht getrunken. Sie ging zum Augenarzt, "einer von der feinfühligen Sorte", wie sie heute ironisch sagt. "Hirntumor, Multiple Sklerose oder ein schwerer Virus", diagnostizierte er - und schickte sie wieder nach Hause. Sickert beschloss, dass der Arzt falsch lag, dass er falsch liegen musste, und ging nicht mehr hin. Nach ein paar Tagen sah sie wieder annähernd normal.