Seit vielen Jahren ist das Hutgeschäft Hillerbrand in der Tölzer Marktstraße verwaist. Weil das Schaufenster wenig ansehnlich war, wurde es von der Stadt vor drei Jahren mit einem Bild des historischen Marktstraßenpanoramas beklebt. In der Weihnachtszeit war es eine Station des Tölzer Krippenwegs: Ein 90 Jahre altes Exponat aus dem Familienbesitz von Wolfgang Friedl, dem Vorsitzenden des Krippenvereins, wurde dort ausgestellt. Den Hintergrund mit gewölbter Weltkugel gestaltete seine Frau, die Kunstmalerin Inge Friedl. Sie war es auch, die das Schaufenster anschließend nicht wieder leer hinterlassen wollte.
Nach Absprache mit der Immobilienverwaltung und der Stadt dient es seit voriger Woche nun als Ausstellungsfläche für ein außergewöhnliches Kunstprojekt, das vor mehr als 20 Jahren seinen Anfang nahm: "Mensch sein, was ist das" - so lautet der Titel der von der Künstlergruppe "Tölzer Art" angestoßenen Aktion. Der Auslöser sei der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 gewesen, erklärt Friedl. Die Betroffenheit der zehn Mitglieder über den Terrorakt, das Reflektieren darüber, was Menschsein bedeutet und ob es eine universelle Antwort gibt - diese Fragen hat die Tölzer Künstlergruppe in die Welt geschickt. Ausschließlich über persönliche Kontakte, die sich immer weiter verbreiteten, und mit der Bitte, sich in Bildern, Skulpturen oder Texten mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Die Resonanz war beeindruckend: Menschen aus 22 Ländern haben sich beteiligt und 120 sehr persönliche Antworten gegeben. Vorgaben in Bezug auf Technik, Format oder Textlänge gab es nicht. Nur ein Versprechen: "Die Arbeiten möglichst vielen Menschen zu zeigen", sagt Friedl. Eine Auswahl der Werke wird nun bis zum Jahresende, in monatlichem Wechsel, im Schaufenster Hillerbrand zu sehen sein. Den Anfang macht eines von Friedls eigenen Ölbildern: Ein blauer Kosmos, eine Lupe, die auf den afrikanischen Kontinent des Planeten Erde gerichtet ist und ein Gesicht heraushebt. "Jeder zählt", sagt Friedl. Aber dennoch sei man "unendlich unwichtig in Raum und Zeit". Daneben ist ein surreales Porträt zu sehen, das eine Künstlerin aus Travemünde geschickt hat, darunter ein kleines Bild einer "Träumerin, Hausfrau, begeisterten Großmutter", wie im Beitext zu lesen ist. In einem Spiegel kann sich der Betrachter selbst sehen, "und sich bewusst machen, dass jeder Teil dieser Welt ist."
In den vergangenen Jahren sind Bilder und Texte aus Italien, Kolumbien, China, den USA, Indien, Afghanistan, Nepal oder Thailand bei Friedl angekommen, von Menschen zwischen zwölf und 93 Jahren, von Altenheimbewohnern, Schülern, Menschen mit Behinderungen. Eine große Sammlung, die sie in ihrem Keller aufbewahrt, und die noch erweitert werden kann. So ist eine Wanderausstellung entstanden, die 2003 in der Tölzer Wandelhalle gezeigt wurde, anschließend in München, der Region und in der Tölzer Partnerstadt San Giuliano Terme.
"Die Kunst und die Familie sind mein Lebensinhalt."
Friedl wurde zu vielen Tagungen und Workshops eingeladen. Ein Höhepunkt sei der Besuch der New Yorker Feuerwehrleute gewesen, die an jenem 11. September Dienst bei dem schrecklichen Attentat hatten. Sie waren auf Einladung der Tölzer Feuerwehrkollegen gekommen. Friedl verschenkte Kataloge, die sie über die Ausstellung gemacht hatte, und hielt einen Vortrag mit dem Titel: "Die Einen töten, die Anderen retten - wo ist der Mensch?" Zeitungsartikel und Berichte über das Menschsein-Projekt füllen einen ganzen Ordner.
Inge Friedl ist das fast ein bisschen unangenehm, sie ist ein bescheidener Mensch. Die gebürtige Wienerin kommt aus einer künstlerischen Familie, ihre Mutter förderte ihr Talent. Sie lernte bei dem Maler und Karikaturisten Hans Reiser die Technik der Alten Meister. "Die Kunst und die Familie sind mein Lebensinhalt". An wie vielen Ausstellungen sie in den vergangenen Jahrzehnten mitgewirkt hat, kann sie gar nicht sagen; die nächste ist im Oktober im Tölzer Stadtmuseum geplant. Friedl ist inzwischen 80 Jahre alt - deshalb, und weil die Zeiten so bedrückend sind, wollte sie die Wanderausstellung noch einmal zeigen. Damit die Leute innehalten und darüber nachdenken, was Menschsein bedeute, betont sie: "Freude, Miteinander und Vielfalt ohne Bewertung."
Von der Stadt begrüßt man die Ausstellung im Hillerbrand-Schaufenster. "Wir sind sehr froh über diese Zwischennutzung", erklärt Pressesprecherin Birte Stahl. Auf lange Sicht sei es natürlich wünschenswert, dass sich in dem Geschäft wieder Einzelhandel oder Gewerbe ansiedelt. Denn Leerstände lassen Innenstädte veröden. Der Eigentümer der Immobilie in der Marktstraße 13 sei vor etwa drei Jahren verstorben. Die nun zuständige Verwalterin sei "zugänglicher", sagt Stahl. Die Stadt habe allerdings keinen Einfluss, ob und an wen Eigentümer ihre Immobilien verpachten. "Wir können über die städtische Wirtschaftsförderung lediglich Kontakte mit Interessenten vermitteln".
Dies geschehe aktuell mit dem leeren Edeka-Markt, der in der Marktstraße eine schmerzhafte Lücke reißt. Der Nahversorger war zum Jahresanfang geschlossen worden, weil der Standort laut der Einzelhandelsgruppe nicht mehr die nötigen Anforderungen erfüllt. Es gebe Interessenten, sagt Stahl, aber die Entscheidung liege beim Eigentümer Hermann Elmering.
Optimistisch ist man in Bezug auf die Brache auf dem Postareal, wo sich der Leerstand über den früheren Matratzen Concord und das Marken Outlet bis zur Kreuzung an der Hindenburgstraße zieht. Das 4000 Quadratmeter große Areal, das ebenfalls Elmering gehörte, wurde von der Aureus Immobilien GmbH mit Sitz in Gmund gekauft, die bereits eine Fläche hinter der Post als öffentlichen Parkplatz zur Verfügung stellt. "Die Eigentümerfamilie Worbs ist bemüht, das Areal im Schulterschluss mit der Stadt zu entwickeln", sagt Stahl. Man sei sehr zufrieden, die Aureus GmbH habe "große Pläne": Lebensmittelversorger, Gastronomie, Gewerbe, Büros, Arztpraxen, Wohnungen in den Obergeschossen, Rooftop-Bar - so hatten die neuen Eigentümer im vorigen Jahr ihre Ideen für das neu entstehende Quartier umrissen. Aureus sei derzeit mit den Planungen beschäftigt, erklärt die Stadtsprecherin.
In der Tölzer Innenstadt gebe es zwar immer wieder Leerstände, etwa weil inhabergeführte Geschäfte aus Altersgründen aufgegeben werden, weil die Mieten hoch oder die Läden zu klein sind. Weil Online-Anbieter generell dem traditionellen Einzelhandel das Leben schwer machen, die Gastronomie unter Personalmangel und der hohen Mehrwertsteuer leidet. Aber die Tölzer Marktstraße sei nach wie vor attraktiv, das zeige die hohe Besucherfrequenz, vor allem im Sommer. Auch neue Geschäfte und Gastrobetriebe siedeln sich an; etwa der Concept Store Emma 2.0 vor gut zwei Jahren, der Modeladen Tausendschön, die Marktküche oder jüngst eine vietnamesische Straßenküche. Ernstings Family zieht in die obere Marktstraße, wo früher ein Bademodengeschäft war, neu ist dort auch das Verkorkst - Kreatives aus Kork in der Marktstraße 73.
Und vor allem hielten sich Traditionshäuser, sagt Stahl - wie Sport Peter, die Buchhandlungen Winzerer und Urban oder das Café Schuler, die für Tölz wichtig seien. Es gebe freilich auch Filialen großer Ketten, "aber nicht übermäßig", so die Sprecherin. Auch Kunst und Kultur hätten "ihre Berechtigung", weil sie die Innenstadt belebten.