Kirchenaustritte:"Ein Prozess der Säkularisierung"

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Bald nur noch ein Relikt aus alten Tagen? Die Gottesdienste der katholischen Kirche, hier die Münsinger Dorfkirche, werden immer weniger besucht. (Foto: Stephan Jansen/dpa)

2022 haben so viele Menschen wie noch nie der katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Im Landkreis gab es 1850 Austritte. Dekan Gerhard Beham äußert sich zu den Gründen für diesen Schwund und den Folgen für die Gesellschaft.

Von Celine Chorus, Wolfratshausen

Es sind dramatische Zahlen: 2022 sind insgesamt rund 520 000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten - so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Zum Vergleich: 2021 waren es noch 360 000 gewesen. Eine Steigerung also um knapp 45 Prozent binnen nur eines Jahres. Die katholische Kirche scheint hierzulande einen quälenden Tod zu sterben. Den Wolfratshauser Stadtpfarrer Gerhard Beham haben die vielen Austritte allerdings nicht überrascht.

"Wir befinden uns in einem Prozess der Säkularisierung", sagt der 62 Jahre alte Geistliche, der seit zwölf Jahren das Dekanat Wolfratshausen leitet. "Das zeigen auch die Zahlen der evangelischen Kirche." Als Dekan ist Beham der Ansprechpartner für die einzelnen Pfarrgemeinden, ebenso ein Bindeglied zwischen den Pfarreien und dem Bischof. Die Religion, meint er, habe sowohl in der öffentlichen Debatte als auch im persönlichen Leben eine geringere Bedeutung als früher. Es fehle eine gewisse Verbindlichkeit, in die Kirche zu gehen, erklärt Beham. Nicht bloß aus einem konkreten Anlass. Vielmehr sollte man diesen Anlass wieder als Anfangspunkt nehmen, um wieder kontinuierlich seinen Glauben zu praktizieren. "Es ist zu einer Eigenschaft unserer Gesellschaft geworden, dass man sich nicht mehr langfristig binden möchte."

Gerhard Beham bleibt Wolfratshausen als Stadtpfarrer erhalten. (Foto: Hartmut Pöstges)

Kirchenaustritte sind ein Trend, der in Deutschland seit Jahrzehnten anhält: Waren 1990 noch knapp 57,9 Millionen Mitglied einer christlichen Kirche, sind es inzwischen fast 17 Millionen weniger. Gleichzeitig ist die Bevölkerung gewachsen. Was zu Folge hat, dass die Mehrheit der Deutschen nicht mehr einer christlichen Kirche abgehört: 2021 ist die Anzahl der Kirchenmitglieder erstmals unter die Marke von 50 Prozent der Gesamtbevölkerung gefallen.

Auf die Frage, warum so viele Menschen aus der katholischen Kirche austreten, gibt es mehrere Antworten, die immer wieder aufgeführt werden. Die vielen Fälle sexuellen Missbrauchs und die Art, wie die Kirche mit den Vorwürfen umgeht, werfen einen schweren Schatten auf die Institution. Bereits Anfang 2022 hatte sich eine explosionsartige Zunahme der Austritte angedeutet, nachdem das Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising veröffentlicht wurde. Darin wird dem ehemaligen Papst Benedikt XVI. Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern vorgeworfen. In den Tagen nach der Vorstellung des Gutachtens verdoppelte sich alleine in der Stadt München die Anzahl der Austrittswilligen: Insgesamt haben 49 000 Menschen die Kirchen im Erzbistum München und Freising verlassen.

Ein weiterer Grund ist, dass die katholische Kirche zu Themen wie Homosexualität, Verhütung und Abtreibung nach wie vor sehr konservative Positionen vertritt. Mit diesen Wertevorstellungen können sich heutzutage offenbar viele Menschen nicht mehr identifizieren. Verschiedene Meinungen, zum Beispiel im Hinblick auf das Zölibat, sind für Pfarrer Beham aber nicht der Grund für die vielen Austritte. Auch die evangelische Kirche im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen werde bis 2030 um die Hälfte schrumpfen - und dort sind nicht nur Pfarrerinnen erlaubt, sondern die Geistlichen dürfen auch in einer Partnerschaft leben. Eher hätten die Menschen, die sich nun abwenden, schon davor keinen Bezug zur Kirche gehabt, glaubt Beham. "Sie sind nicht über eine konkrete Sache verärgert, sondern sie wollen austreten, weil es nichts Besonderes mehr ist."

Wer in Deutschland aus der Kirche austreten möchte, muss seinen Entschluss nicht begründen. Das macht es auch für Beham schwer, mehr über die Ursachen zu erfahren. Zwar suche er meist ein persönliches Gespräch, aber nur wenige Menschen würden tatsächlich auf sein Angebot eingehen, erzählt er. Unter den Austrittswilligen seien manchmal auch Leute, die zwar an Gott glauben, aber denken, dass sie nicht mehr die Institution Kirche brauchen, um ihren Glauben zu leben. Dagegen würden Menschen, die in ihrem Leben schon Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben, eher nicht austreten, so der Dekan.

Das zeigt sich auch beim Blick auf die Zahlen. Nach Angaben der Standesämter haben im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen knapp 1850 Menschen voriges Jahr die Kirche verlassen, die meisten davon in Geretsried (603), Bad Tölz (531) und Wolfratshausen (329). "Je städtischer eine Kommune ist, desto höher sind auch die Kirchenaustritte", erklärt Beham. In den Dörfern sei die Zahl noch immer sehr gering - auch deshalb, weil die Menschen dort näher an der Kirche seien und sich über die Vereine auch diejenigen erreichen ließen, die sonst nicht zu den "normalen" Kirchgängern gehörten.

Was bedeutet es aber für die Gesellschaft, wenn die Kirchen immer mehr Mitglieder verlieren? Beham macht auf einen Punkt aufmerksam, der seiner Ansicht nach in der Diskussion über die Kirchensteuer oftmals vergessen werde. Gerade im ehrenamtlichen Bereich spiele die katholische Kirche eine große Rolle, betont er. In Deutschland betreibt sie viele Schulen, Kindergärten und soziale Einrichtungen. "Wenn wir Gebäude aufgeben müssen, weil so viele Menschen aus der Kirche austreten, wird es niemanden geben, der dies auffangen kann." Dies sei etwas, was vielen Menschen nicht bewusst sei, worauf die Kirche aber in den kommenden Jahren reagieren müsse: "Die Kirche entwickelt sich gerade von der versorgten zu der für sich selbst sorgenden Kirche."

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