Inklusion in Bad Tölz:Gut im Rhythmus

Lesezeit: 5 min

Jakob Zorawski spielt gern Schlagzeug und arbeitet seit drei Jahren im Tölzer Kindergarten Arche Noah. Der 31-Jährige mit Downsyndrom schätzt ein Stück Normalität in seinem Alltag - und die Kinder lieben ihn

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Jakob Zorawski steht in der Küche und hält eine gekochte Karotte in der Hand. Er schält sie konzentriert, Streifen um Streifen. Für die Mädchen und Buben im evangelischen Kindergarten Arche Noah in Bad Tölz gibt es tags darauf Hühnersuppe mit Gemüse, das muss jetzt schon einmal vorbereitet werden. Zorawski erzählt, wie er die Teller mit dem Mittagessen in den kleinen Lastenaufzug schieben, wie er sie mit den Servierwagen zu den Kindern fahren, wie er das leere Geschirr zurück in den Aufzug stellen wird. Dann kann er eine der Wäscheklammern von der kleinen Säule aus Farbfotos am Küchenschrank lösen. Auf jedem Bild ist er selbst zu sehen, wie er die diversen Arbeiten erledigt, für die er zuständig ist. Und wenn alle Klammern in der kleinen Plastikdose liegen, "dann mache ich Feierabend", sagt er und grinst übers ganze Gesicht. Kindergartenleiterin Maria Girmann lächelt mit.

Jakob Zorawski hat das Downsyndrom. In der Arche Noah, die vor 25 Jahren am Schützenweg eröffnet wurde und mit Holz fast wie das Innere eines alten Segelschiffs gestaltet ist, hilft er nicht bloß in der Küche mit. Er richtet die Speisen an, er serviert sie, er wäscht ab, er bringt den Müll raus, er recht das Laub im Garten zusammen. "Es sind Tätigkeiten, die keiner von uns gerne zusätzlich machen will", sagt Girmann. Pädagogische Aufgaben hat er in dem inklusiven Kindergarten nicht. Aber die Kinder mögen ihn, vor allem jene, die selbst mit einer Behinderung leben müssen. Zum Beispiel der kleine Jeremy mit seinen schwarzen Wuschelhaaren. Als Jakob mit dem Servierwagen kommt, läuft er sofort zu ihm. Jakob hängt auch an Jeremy. "Ich mag ihn gerne", sagt er. Und Alva. Und Calogero? Er wiegt den Kopf, dreht den Gemüseschäler in der Hand und meint schließlich, na ja, den möge er auch.

Jakob Zorawski kennt den evangelischen Kindergarten in Bad Tölz von Kindesbeinen an. Dort lebte er schon mit Mädchen und Jungen ohne Behinderung zusammen, als Inklusion nur in der pädagogischen Fachwelt ein gängiger Begriff war. 1995 gab es in der Arche Noah drei Kindergartengruppen, eine davon war bereits eine Integrationsgruppe. Mittlerweile sind es eine Kindergartengruppe mit 25 Plätzen, zwei Integrationsgruppen mit 16, respektive 18 Plätzen, eine Krippengruppe, eine Waldgruppe, eine Schulkindergruppe. 101 Mädchen und Jungen besuchen derzeit den Kindergarten der evangelischen Kirchengemeinde, neun von ihnen haben ein Handicap oder sind ihrer Entwicklung stark verzögert. Um sie kümmert sich ein Team von 22 pädagogischen Voll- oder Teilzeitkräften, drei weiteren Mitarbeitern und einer Praktikantin.

Als Jakob vor 1995 kam, gab es lediglich einen provisorischen Kindergarten im evangelischen Gemeindehaus, den auch eine seiner beiden Schwestern besuchte. Geleitet wurde er schon damals von Maria Girmann, die aus Nordrhein-Westfalen stammt und dort als Fachkraft in einer Behinderteneinrichtung gearbeitet hatte. Den kleinen Buben mit dem Downsyndrom aufzunehmen, sei für sie "so selbstverständlich" gewesen, erzählt Girmann, die bis 2014 für die Grünen im Stadtrat saß. "Warum sollte er woanders hin?"

Jakob hatte es nicht einfach. Nach dem Kindergarten durchlief er die Von-Rothmund-Schule der Lebenshilfe in Bad Tölz, danach stellte sich die Frage, wo er mit seinen 18 Jahren arbeiten sollte. Seine Eltern, erzählt Girmann, hätten sich stets "für ein normales Leben für ihn eingesetzt". Aber das funktionierte zunächst nicht recht. Er bekam Stellen bei einem Catering-Service, bei Real Isarwinkel, bei anderen Arbeitgebern, "aber das hat nicht so geklappt", so Girmann. Am Ende blieben die Oberland-Werkstätten in Gaißach. Jakob fuhr mit dem Bus vom Wohnheim neben dem alten Prinzregent-Luitpold-Heim zu den Gaißacher Werkstätten und wieder zurück, hin und zurück, hin und zurück, Tag für Tag. Und immer hatte er Menschen um sich herum, die ebenfalls eine Behinderung hatten. "Für ihn war das zu viel", sagt die Kindergartenleiterin. "Er brauchte ein Stück Normalität."

Jakob erlebt diese Alltäglichkeit seit knapp drei Jahren im Kindergarten. 2018 kam seine Mutter zu Girmann und fragte nach, ob ihr Sohn dort für ein halbes Jahr mal ein Praktikum absolvieren könne. Die Kindergartenleiterin sagte zu, obgleich ihr bewusst war, dass Inklusion immer auch ein Wagnis ist und schiefgehen kann. Schließlich sehen beileibe nicht alle Experten darin eine Art Wundermittel im Umgang mit Menschen mit Behinderung, die vom normalen Alltag mit seinen Leistungsgesetzen auch rasch überfordert sein können. Girmann sagt, ihr sei klar gewesen, dass Jakob eine Anleitung brauche. Und ihr Team ebenso. Die erhielt sie auch - und zwar vom Integrationsfachdienst Oberbayern Südost (ifd) aus Rosenheim. "Sie kamen zu uns und haben uns beraten, das war super", sagt die Kindergartenleiterin. Es lief gut mit Jakob. Als sich nach dem Praktikum die Frage stellte, ob und wie es mit ihm in der Arche Noah weitergehen soll, öffnete sich noch eine Tür. Der Bezirk Oberbayern als Sozialhilfeträger finanziert im Zuge der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung eine Stelle für den 31-Jährigen mit. Außerdem zahlt er einen Teil des Gehalts für eine Arbeitsassistentin, die ihm im Berufsalltag zur Seite steht. "Damit war das Budget da", sagt Girmann, um Jakob am 1. Januar 2019 fest anzustellen. Die evangelische Kirchengemeinde gibt sich ihrer Ansicht nach seit Jahren viel Mühe mit der Inklusion, kann aber auch nicht alles stemmen. Schließlich müsse man bedenken, dass Jakob für eine Verrichtung eine Stunde brauche, die andere in zehn Minuten erledigten, sagt sie.

Jakob ist im Kindergarten von allen gerne gesehen. Von den Kindern, die auf ihn und sein Verhalten ganz unaufgeregt reagieren, wie Girmann erzählt. "Sie fragen nach und sagen dann eben, dass er das noch nicht kann - noch nicht. Und nicht, dass er es nicht kann." Von Kindern mit Behinderung, die manchmal "auf ihn geradezu fliegen". Von den Eltern, die vor seiner Anstellung befragt wurden und ihre Zustimmung in einer späteren Umfrage noch einmal bekräftigten. Als der 31-Jährige unlängst für zwei Wochen im Urlaub in Schottland weilte, hätten sich einige Eltern erkundigt, wo denn der Jakob sei: "Sie sagten, wir vermissen ihn." Und vom Kindergartenteam, wo manch junge Erzieherin anfangs schon eine Zeit der Umgewöhnung brauchte, wie Girmann berichtet. Denn es kann zum Beispiel mal vorkommen, dass Jakob kurz ein Kind schimpft. Aber dann werden ihm gewissermaßen ein Stoppschild und Wegweiser gesetzt. "Er weiß, wo seine Grenze ist, er weiß auch, wie viel Anerkennung und Wertschätzung er kriegt", betont die Leiterin. Und Jakob hat Ljubinka Nedeska. Der 31-Jährige sei "sehr freundlich und offen zu anderen Menschen", sagt die Arbeitsassistentin. Seit zwei Jahren arbeitet sie mit ihm und kennt ihn nahezu aus dem Effeff. "Ich kann auch in schwierigen Situationen mit ihm umgehen", sagt sie. Sein Kontakt zu den Eltern, den Kindern, dem Team sei jedoch "super".

Noch vier Stunden, dann kann Jakob Zorawski zurück ins Wohnheim neben der Von-Rothmund-Schule gehen, wo er ebenfalls einen Betreuer hat. Der habe gesagt, "Jakob geht es viel besser, er kommt ausgeglichener aus der Arbeit", so Girmann. Vielleicht wird er später auf dem langen Nachhauseweg wieder durch die Marktstraße und zum Bäcker laufen - für einen "Kaffee to go", wie er sagt. Vielleicht wird er auch daran denken, dass er nicht ins Musikzentrum "Trommelfell" gehen kann, wo er Schlagzeug übt. Die Schule in der Salzstraße hat gerade geschlossen, wegen Corona. Jakob, sagt Girmann, habe "den totalen Rhythmus" als Schlagzeuger. Das zeige er auch immer wieder in Gottesdiensten. "Das liebt er, dafür lieben ihn auch die Kinder." Er sei ein Drummer, sagt Jakob. Dann schält er weiter Karotten und grinst plötzlich. "Heute gehe ich früher heim", sagt er.

© SZ vom 05.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: