Das vermeintlich so schöne deutsche Wort "Habseligkeiten" hat mit der Seligkeit gar nichts zu tun. Nicht etymologisch. Und schon gar nicht in der Wirklichkeit. Es beschreibt nur den kärglichen Besitz, der einem Menschen bleibt, etwa wenn er sich auf eine Flucht begibt. Das Mittelmeer ist voll solcher Habseligkeiten, voll der letzten Dinge Tausender Flüchtlinge, die es nicht geschafft haben. Einen winzigen Teil dieser traurigen Hinterlassenschaft können Besucher des Erinnerungsorts Badehaus in Waldram in einer Sonderausstellung besichtigen. Ein Rosenkranz, ein kaputtes Handy, eine zerrissene Armbanduhr, eine Stange Kau-Lakritze - es sind dokumentarisch nüchterne Bilder, die der italienische Fotograf Mattia Balsamini aufgenommen hat. Aber wer sie emotional im Zusammenhang begreift, wird das Haus erschüttert verlassen.
Der von der Historikerin Sybille Krafft geleitete Badehaus-Verein hat diese Ausstellung mit dem Einverständnis des Fotografen und der Autorinnen Margherita Bettoni und Lara Fritzsche aus dem Beitrag "Von ganz unten" des Magazins der Süddeutschen Zeitung entwickelt. Krafft sagte am Sonntag bei der Eröffnung, dieses Thema gehöre unbedingt ins Badehaus. In diesem bürgerschaftlich geschaffenen und betriebenen Museum wird die Geschichte der NS-Rüstungsarbeitersiedlung Föhrenwald im Wolfratshauser Forst, des dort nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteten Camps für jüdische Displaced Persons und der folgenden Ansiedlung katholischer kinderreicher Heimatvertriebener erzählt. Das Verbindende zwischen allen Phasen der Zeitgeschichte und dem Heute ist nach Kraffts Überzeugung "die Hoffnung von Menschen auf ein Leben in Würde und Freiheit, ohne Armut und Krieg".
Mit eben dieser Hoffnung begeben sich Tag für Tag Flüchtlinge aus afrikanischem Elend, aus Unterdrückung und Folter in unfassbar gefährliche Situationen. So wie jene mehr als 700, die am 28. April 2015 mit ihrem 25 Meter langen Boot im Mittelmeer kenterten. Nur 28 überlebten. 528 Leichen, so berichten die Autorinnen des SZ-Magazins, wurden mehr als ein Jahr später aus dem Wrack geborgen. Die Mailänder Forensikerin Cristina Cattaneo hat versucht, die Menschen mit ihren Habseligkeiten zu identifizieren. "Jugendlicher, männlich. In der Hosentasche trug das Opfer einen Schlüssel und zwei Kreuze, darunter ein koptisches." So liest sich das nun unter einem Foto, das Mattia Balsamini arrangiert hat. Die Gegenstände sind rostig, schmutzig, verfärbt. Das Säckchen mit Heimaterde scheint seinen Inhalt dennoch wundersam konserviert zu haben. Einem ertrunkenen Mann um die dreißig konnten ein paar Euro-Scheine, Medikamente und zwei Sim-Karten zugeordnet werden. Unter den meisten Bildern aber steht "Unbekannt".
"Ich war der Letzte im dritten Boot"
Bevor die Besucher der Vernissage die Fotos im Gartengeschoss des Badehauses anschauen konnten, war bei der Eröffnungsfeier unterm Dach erst noch ein Film zu sehen, ein Interview mit dem aus Mailand per Skype zugeschalteten Fotografen zu hören und ein Zeitzeugengespräch mit einem Asylsuchenden zu verfolgen. Der junge Mann betrat die Bühne mit den Tränen kämpfend. Aber er wollte sie betreten, so wie es seine Betreuerin, die Tölzer Lehrerin und Flüchtlingshelferin Elisabeth Voigt, mit ihm vorbereitet hatte.
Allan, 21 Jahre alt, aus Sierra Leone, lebt seit zwei Jahren in Bad Tölz. Er hat gut Deutsch gelernt, absolviert in Penzberg eine Ausbildung zum Altenpflegehelfer und würde, wenn die Behörden ihn ließen, sich gern noch weiter qualifizieren. Sein Status lautet im bürokratischen Fachjargon: "Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens". Mit anderen Worten: Niemand weiß, wie lange er bleiben kann. Seine Eltern habe er verloren, als er fünf war, berichtete er, von seinen vier Geschwistern seien drei bereits tot, und ein Teil seiner Verwandtschaft sitze in Sierra Leone im Gefängnis.
Allans erstes Fluchtziel war weder Deutschland noch Europa. Er irrte durch vier afrikanische Länder, bevor er in Libyen die Chance bekam, auf ein Boot zu steigen, das Richtung Italien fuhr. "Gottseidank hat mich jemand gekauft", sagte Allan am Sonntagabend über diese Chance. Sie bestand darin, dass ein offenbar etwas menschlicherer Sklavenhändler ihn von einem anderen ablöste, bei dem er eineinhalb Jahre lang wie ein Gefangener gelebt hatte. "Ich war der Letzte im dritten Boot", so schilderte Allan den Beginn seiner Fahrt übers Mittelmeer - 18 Stunden ohne Essen und Getränk. Aber immerhin landete das Boot an. Über Sizilien und Mailand gelangte der junge Mann in die Schweiz, von dort nach München, schließlich nach Bad Tölz.
Wie schrecklich das Trauma dieser Flucht ist, mögen Außenstehende nur ahnen. Aber nach dem Film, der im Badehaus kurz vor Allans Auftritt gezeigt wurde, konnte es jeder in seinem Gesicht sehen. In dem "Tagesthemen"-Beitrag wird ein tunesischer Fischer vorgestellt, der auf eigene Faust einen "Friedhof der Unbekannten" geschaffen hat. Dieser Mann namens Chamseddine Marzoug begräbt Leichen von ertrunkenen Geflüchteten, die in der Hafenstadt Zarzis angeschwemmt werden. Seine Tat ist eine stille Verbeugung vor der Würde jedes einzelnen Verstorbenen. Ein zutiefst humaner Akt. Und für Menschen wie Allan eine Erinnerung daran, was sie gesehen, erlebt und schließlich überlebt haben. Der junge Mann war nicht der einzige im Raum, der bei diesen Szenen die Tränen nicht zurückhalten konnte.
Ausstellung "Von ganz unten" ; bis 29. März 2020, www.erinnerungsort-badehaus.de. Der Beitrag ist erschienen im SZ-Magazin Nr. 20 vom 17. Mai 2019