Bad Tölz-Wolfratshausen:"Gewalt hat viele Facetten"

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Jede vierte Frau in Deutschland wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren Partner. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Immer mehr Menschen in Deutschland werden Opfer häuslicher Gewalt. Nicoline Pfeiffer von "Frauen helfen Frauen" spricht über die Situation im Landkreis - und erklärt, warum Gewalt nicht erst mit Schlägen beginnt.

Von Celine Chorus, Wolfratshausen

Es sind Zahlen, die wütend machen: Alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer häuslicher Gewalt, und jede Stunde sind mehr als 14 Frauen von Partnerschaftsgewalt betroffen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung des Bundeskriminalamts von 2022. Die Fälle häuslicher Gewalt, das ist eine der Erkenntnisse, die sich aus der Statistik ziehen lässt, steigt seit Jahren kontinuierlich. Im Vergleich zu 2021 ergibt sich ein Plus von 8,5 Prozent. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr mehr als 240 000 Menschen in der Polizeilichen Kriminalstatistik als Opfer häuslicher Gewalt erfasst. Davon waren 65,6 Prozent von Partnerschaftsgewalt und 34,4 Prozent von innerfamiliärer Gewalt betroffen.

"Gewalt hat viele Facetten", sagt Nicoline Pfeiffer von "Frauen helfen Frauen" in Wolfratshausen - und beginne nicht erst mit Schlägen. Demütigungen, Beschimpfungen, Einschüchterungen, Belästigungen, soziale Isolation oder wirtschaftliche Abhängigkeit seien ebenso Formen von Gewalt. Sie könne sich gegen Menschen aller sozialen Schichten und jeden Alters richten, betont Pfeiffer: "Die Frauen, die zu uns in die Beratung kommen, sind ein Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung." Das Ziel häuslicher Gewalt sei jedoch stets dasselbe: Die Kontrolle über eine andere Person zu bekommen.

Der Verein "Frauen helfen Frauen" hat es sich zur Aufgabe gemacht, betroffene Frauen und ihre Kinder zu unterstützen. Er bietet ihnen mit dem Notruf eine schnelle Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, und mit dem Frauenhaus ein sicheres Dach, um ein neues Leben ohne Gewalt zu beginnen. Dass es solche Initiativen braucht, ist unbestritten: 2022 haben allein 414 Frauen die Beratungsstelle von "Frauen helfen Frauen" in Wolfratshausen aufgesucht. In den Gesprächen ging es laut Pfeiffer meist um häusliche Gewalt, aber auch das Umgangs- und Sorgerecht für die eigenen Kinder sowie gerichtliche Schutzanordnungen seien oft thematisiert worden. Nur 35 konnten tatsächlich auch im Frauenhaus untergebracht werden.

Geschlechterbilder spielen bei häuslicher Gewalt noch immer eine zentrale Rolle

Häusliche Gewalt beschreibt alle Formen körperlicher, sexualisierter oder psychischer Gewalt zwischen Menschen, die in einer familiären oder partnerschaftlichen Beziehung zusammenwohnen. Der jeweilige Tatort muss jedoch nicht zwingend die gemeinsame Wohnung sein. Unterschieden wird zwischen zwei Ausprägungen: Partnerschaftsgewalt bezieht sich auf die Gewalt in einer Ehe, Lebenspartnerschaft oder intimen Beziehung. Bei innerfamiliärer Gewalt richtet sich diese meist gegen Kinder, Eltern oder Geschwister.

Die Geschlechterbilder spielten dabei noch immer eine zentrale Rolle, so Pfeiffer. In der Istanbul-Konvention wird Gewalt gegen Frauen als "der Ausdruck historisch gewachsener, ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern" beschrieben. Dies kann die Vorsitzende von "Frauen helfen Frauen" aus ihrer täglichen Arbeit bestätigen: In einer umstrittenen Studie hatten 34 Prozent der befragten Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren zuletzt angegeben, gegenüber Frauen "schon einmal handgreiflich" geworden zu sein, und 33 Prozent, es akzeptabel oder eher akzeptabel zu finden, wenn ihnen im Streit mit der Partnerin gelegentlich "die Hand ausrutscht". "Wenn Männer im Zweifelsfall mit Gewalt durchsetzen, dass sie das Sagen haben, führt dies natürlich dazu, dass Frauen häufiger Opfer von häuslicher Gewalt werden."

Nicoline Pfeiffer (rechts) und Mariana Schlosser versuchen, betroffenen Frauen einen Schutzraum vor Gewalt zu bieten. (Foto: Hartmut Pöstges)

Es wird davon ausgegangen, dass in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt wird; etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Das spiegelt sich auch im "Lagebild häusliche Gewalt" des Bundeskriminalamts: 2022 waren 71,1 Prozent der Opfer weiblich und 76,3 Prozent der Täter männlich. Das sind jedoch nur die offiziellen Zahlen, viele Gewalttaten bleiben im Dunkeln: Weil viele Frauen ihren gewalttätigen Partner nicht anzeigen und deshalb auch nicht in dieser Statistik auftauchen.

Wenn eine Frau entscheidet, sich Hilfe zu holen, versucht "Frauen helfen Frauen", sie noch in derselben, spätestens aber in der nächsten Woche zu beraten. "Sonst verlässt sie der Mut oder sie befinden sich schon in einer anderen Phase der Gewaltspirale." In die Sprechstunde kämen meist Frauen aus der näheren Umgebung, wie Pfeiffer erklärt - und die suchten manchmal auch nur Beratung zum Thema Trennung: "Das haben wir bewusst so offen gehalten, weil das, was man als Gewalt wahrnimmt, sehr unterschiedlich sein kann."

Die Plätze im Wolfratshauser Frauenhaus reichen schon lange nicht mehr

Ins Frauenhaus können sie aber nur in Ausnahmefällen aufgenommen werden, weil das Risiko, dass der gewalttätige Partner sie dort findet, zu hoch wäre. "Es gibt daher immer wieder Frauen, die gezielt auch nach weiter entfernten Frauenhäusern suchen." Das hat auch mit einem weiteren Problem zu tun: Der Bedarf an Plätzen im Frauenhaus steigt, die Zahl der verfügbaren Plätze bleibt aber gleich. Sechs Zimmer bietet das Frauenhaus in Wolfratshausen, hinzu kommen drei Wohnungen, die dem Verein vom Landkreis zur Verfügung gestellt werden. Das reicht schon lange nicht mehr. 2022 mussten 48 Frauen wegen Platzmangels abgewiesen werden. Oder anders ausgedrückt: Sie mussten erstmal in ihre Familien zurückkehren, zu den gewalttätigen Männern.

Ob die häusliche Gewalt im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen zugenommen hat, kann Pfeiffer nicht beurteilen. Sie schätzt, dass der Verein 20 bis 30 Prozent mehr Anfragen bekomme als früher. "Das kann aber auch daran liegen, dass das Thema öffentlich geworden ist, und sich deshalb mehr Frauen bei uns melden." Im Umgang mit Gewalt wünscht sich Pfeiffer nachhaltige Konzepte: Der Fokus liege noch stark darauf, wie damit umgegangen wird, und weniger, was es braucht, damit Gewalt langfristig abnimmt. Lösungen also, damit es gar nicht erst so weit kommt.

Seit fast 30 Jahren engagiert sich Pfeiffer schon bei "Frauen helfen Frauen". In dieser Zeit habe sich einiges zum Positiven entwickelt, die gesellschaftliche Entwicklung sei aber noch längst nicht am Ende: "Das Ziel war immer, Frauenhäuser überflüssig zu machen. Davon sind wir noch weit entfernt." Die Gesellschaft müsse sich stärker mit ihren patriarchalen Strukturen auseinandersetzen und deutlicher Stellung gegen jegliche Form der Gewalt beziehen, sagt Pfeiffer. "Frauen wird noch immer eine Mitschuld gegeben. So lange das so ist, wird sich an der Gewalt auch nichts ändern und werden Frauen diejenigen sein, die am meisten gefährdet sind."

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