Homeschooling, Kontaktbeschränkungen, Isolation: Die Corona-Pandemie hat jungen Menschen arg zugesetzt. Welche Auswirkungen die langen Lockdowns auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hatten, das können Martin Rieger und Cora Neuhaus an ihren Patienten beobachten. Die beiden Kinder- und Jugendpsychiater leiten die Institutsambulanz des kbo-Heckscher-Klinikums in Wolfratshausen und behandeln dort junge Menschen im Alter von drei bis 18 Jahren mit psychischen Problemen.
Rieger, der leitende Oberarzt, und seine Stellvertreterin Neuhaus präsentierten ihre Erfahrungen im Landkreis auf der Vollversammlung des Arbeitskreises Sucht am Donnerstag im Sitzungssaal des Landratsamts Bad Tölz-Wolfratshausen. Die Corona-Schutzmaßnahmen waren ein tiefer Einschnitt in den Alltag junger Menschen. So waren hierzulande zwischen Januar 2020 und Mai 2021 an 74 Tagen die Schulen komplett und an weiteren 109 Tagen teilweise geschlossen. Innerhalb Europas gab es nur in Polen längere Schulschließungen als in Deutschland.
Die Kinder und Jugendlichen hatten dadurch mit einigen Stressfaktoren zu kämpfen: Die Alltagsstruktur ging verloren, auch Freiheiten und ihre Selbständigkeit. Soziale Kontakte gab es kaum noch, viele Kinder fühlten sich deswegen isoliert und allein. Auch die gewohnte Lernumgebung ging verloren, es mangelte an Ausgleich durch Freizeitaktivitäten. Jüngere Kinder waren von diesen Stressfaktoren noch stärker betroffen als Jugendliche, die schon etwas selbständiger sind.
Sieben von zehn Menschen zwischen elf und 17 Jahren klagten einer Studie zufolge über Belastungsgefühle durch die Pandemie. 80 Prozent erlebten den Verlust an sozialen Kontakten am belastendsten, 65 Prozent hatten Probleme mit dem Lernen und Homeschooling und mehr als ein Viertel klagte über vermehrte familiäre Konflikte. Am stärksten betroffen waren Kinder in Familien mit niedrigem Bildungsstand und solche, die in beengten Wohnverhältnissen leben.
Diese Stressfaktoren hatten eine ganze Reihe psychosomatischer Beschwerden zur Folge: Konzentrationsprobleme, Interessenverlust, Schlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen, Traurigkeit, Schwächegefühle und eine generalisierte Angst. Vier von zehn jungen Menschen erlebten der Studie zufolge während der Pandemie ihre Lebensqualität als eingeschränkt.
Jugendliche nahmen weniger Rauschmittel, weil sie sich in Gruppen kaum noch treffen konnten
Auf das Suchtverhalten junger Menschen hatte die Pandemie überraschenderweise einen positiven Effekt - zumindest im Bezug auf Rauschmittel: Laut einer DAK-Erhebung ging der Alkoholmissbrauch bei Minderjährigen im Jahr 2020 um 28 Prozent zurück, der Tabakkonsum nahm um zwölf Prozent ab und der Cannabismissbrauch lag 2020 um 15 Prozent unter dem des Vorjahres. Grund dafür sei, erklärt Psychiaterin Neuhaus, dass Jugendliche Rauschmittel vor allem in Gruppen konsumierten. Weniger soziale Kontakte führten in jungem Alter zu weniger Substanzmittelmissbrauch. Anders ist das bei Erwachsenen: Unter ihnen stieg der Alkoholkonsum an.
Ein anderes Suchtverhalten hat sich während der Pandemie verschlimmert: das pathologische Computerspielen und die Mediensucht. Isolation und Langeweile trieben die Kinder ins Digitale. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 steigerte sich die Onlinezeit einer Untersuchung zufolge an Wochentagen von 79 Minuten um 76 Prozent auf 139 Minuten. Die Nutzung sozialer Medien nahm um 66 Prozent zu. Waren 2019 noch 2,7 Prozent der Kinder computerspielsüchtig, waren es 2021 schon 4,1 Prozent.
Viele junge Menschen wurden depressiv, soziale Phobien wurden durch die Kontaktbeschränkungen schlimmer, auch Angsterkrankungen gab es häufiger. Hatte 2020 noch knapp jeder zehnte junge Mensch mit psychischen Problemen zu kämpfen, war es 2021 schon fast jeder vierte. Die Kinderintensivstationen in Deutschland meldeten 2021 eine Vervierfachung der Suizidversuche gegenüber dem Vorjahr. Die Entwicklung, die den Psychiater Rieger, "am meisten überrascht" hat, ist der Anstieg an magersüchtigen Patienten in seiner Institutsambulanz während der Pandemie. Im vergangenen Jahr wurden 40 Prozent mehr Kinder bis 14 Jahren wegen Anorexie in Kliniken eingewiesen, unter den 15- bis 19-Jährigen waren es 32 Prozent mehr.
Trotz all dieser schlechten Entwicklungen blickt Cora Neuhaus positiv in die Zukunft: "Die Öffnungen und Erleichterungen im Alltag führen dazu, dass es wieder aufwärts geht."