Alexander Radwan ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags, wo er den Wahlkreis 223 Bad Tölz-Wolfratshausen/Miesbach vertritt. Davor saß der CSU-Abgeordnete neun Jahre lang im Europäischen Parlament und hat sich dort um die Beziehungen zu den Maschrek-Ländern gekümmert. Im SZ-Interview erklärt er, was sich seiner Ansicht nach aus der Entwicklung Russlands lernen lässt - und wie Deutschland zu einer Deeskalation des Nahost-Konflikts beitragen kann.
SZ: Herr Radwan, die aktuelle Bundesregierung ist seit knapp zwei Jahren im Amt. Wie bewerten Sie die bisherige Leistung der Ampel-Koalition?
Alexander Radwan: Ich glaube, die Halbzeitbilanz ist für manche vor allem deswegen so positiv ausgefallen, weil man geplante Gesetzesvorhaben abgehakt hat. Ob die Gesetze auch gut waren, hat in der Berichterstattung keine Rolle gespielt. Was ich an der Koalition kritisch sehe: In Zeiten, in denen Unsicherheit vorhanden ist, brauchen die Menschen Orientierung durch die Politik. Das hat die Ampel-Koalition nicht erbracht, und diese Verunsicherung führt zu Auswüchsen, wie man sie nun auch bei den Landtagswahlen beobachten konnte.
Was sind Sorgen, die Sie häufig hören?
Vor allem natürlich der Terror und Krieg in der Welt. Weiter ist es die Inflation sowie die gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise sowie die Flüchtlingspolitik, mit der vor allem die Kommunen auf mich zugekommen sind.
Der Tölzer Bürgermeister Ingo Mehner (CSU) beklagte im September, dass die Kommunen bei der Unterbringung von Geflüchteten an ihre Leistungsgrenzen kämen.
Diese Hilferufe sind bei mir mehr als angekommen. Der Landrat und die Bürgermeister sind engagiert, diese Herausforderung zu stemmen. Ich habe aber den Eindruck, dass sie zunehmend mit dem Rücken zur Wand stehen und kaum noch Lösungen finden.
Wo würden Sie ansetzen?
Wenn die Bundesregierung und das EU-Parlament in Brüssel nicht handeln, entgleitet uns das Thema und wird zu einem Brandbeschleuniger für die AfD und für die Rechtsextremen. Es gilt alles daran zu setzen, dies zu verhindern, und deshalb kommen wir um eine Steuerung und Reduzierung nicht herum. Zum Beispiel durch Abkommen mit Ländern in Nordafrika und indem man schon dort anfängt zu selektieren, wer in Deutschland eine Perspektive hat. Das machen andere Länder auch schon, und es wäre etwas, das wir ernsthaft, und zwar zeitnah, angehen müssen.
Im Juli haben Sie im Europaausschuss des Bundestags mit Andreas Scheuer für einen Antrag der AfD gestimmt. Damals sprachen Sie von einem Versehen, weil Sie davon ausgegangen waren, dass der erste Antrag - wie die folgenden zwei Anträge - von der CDU gestellt wurde.
Wenn ein solcher Geschäftsordnungsantrag von uns aus Versehen nicht gestellt wird, halte ich es trotzdem für richtig zu sagen, dass die Fristen beim Heizungsgesetz zu kurz waren. Daraus eine Nähe zur AfD zu konstruieren, wie es einige Grünen-Abgeordnete versucht haben, ist sowas von abwegig und absurd. Ich stehe dafür, dass wir uns bewusst machen, was unsere Politik ist, und dafür auch stimmen.
Also auch bei AfD-Anträgen?
Den Umkehrschluss, dass die CDU/CSU nicht für etwas sein kann, weil die AfD dafür ist, werde ich nicht mitmachen. Bürokratieabbau und Steuererleichterungen sind zum Beispiel klassische Themen der CDU/CSU. Sollte die AfD zustimmen, können wir uns nicht einen Maulkorb verpassen.
Wie stehen Sie zur AfD?
Die AfD wurde und wird von mir bekämpft und als politischer Partner in keinster Weise akzeptiert.
2021 haben Sie den Siedlungsdruck als eine der größten Herausforderungen für die Region bezeichnet. Wie würden Sie dieses Problem lösen?
Das ist in dieser Einfachheit sicherlich schwierig. Wir müssen es schaffen, dass die einheimische Bevölkerung nicht vertrieben wird. Es beginnt bei der Frage, wie diejenigen, die das Glück haben, Immobilien zu besitzen, es schaffen, ihr Eigentum an die nächste Generation zu übergeben. Das betrifft auch viele Mietwohnungen im privaten Besitz. Wir müssen aber auch schauen, wie sich die Bauvorschriften vereinfachen lassen. Das muss man realistischer angehen und mit dem Ziel, Wohnungen zu bauen. Durch die Finanzierungsproblematik, die sowohl Privatleute als auch Bauträger betrifft, ist es aber natürlich nicht einfach. Daher müssen die Finanzierungs- und Abschreibungsmöglichkeiten verbessert werden, damit man entsprechend investieren kann.
Sie äußern sich auch oft zum Wolfsmanagement. Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig?
Es ist ein Thema, das schon lange brodelt und sich immer mehr auswächst. Die oberste Priorität muss sein, dass unsere Almwirtschaft erhalten bleibt - und wenn dies durch den Wolf nicht geht, muss es die Möglichkeit geben, ihn zu entnehmen. Für mich hat der Wolf in dieser Abwägung keine höhere Priorität als die Almbauern.
Sie sind Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Wie stehen Sie zum Engagement im Ukraine-Krieg?
Ich halte es in der Form für richtig. Meine Kontakte aus dem EU-Parlament bestärken mich darin, dass dieser Krieg nicht allein auf die Ukraine begrenzt bleibt. Russland würde mit Blick auf Polen und die baltischen Staaten weitermachen. Es geht also darum: Sind wir bereit, unsere Lebensform - und damit meine ich nicht den Luxus, sondern Freiheit und Demokratie - zu verteidigen? Diese Frage beantworte ich eindeutig mit Ja.
Wie beurteilen Sie dabei die Rolle des Kanzlers?
Dass er immer wieder so defensiv agiert, finde ich nicht gut. Aus meiner Sicht hätte man bestimmte Kriegshandlungen eher verkürzen als verlängern können, wenn man gleich zu Beginn mutig gewesen wäre. Wir erleben gerade eine Verschiebung in Europa und dies bedarf eines entsprechenden Handelns. Die Stärkung der Bundeswehr müsste oberste Priorität haben, aber wenn ich mir den Haushaltsentwurf für 2024 anschaue, wird das Zwei-Prozent-Ziel wieder verfehlt. Der Kanzler macht große Ankündigungen, aber die Schlussfolgerungen werden nicht getroffen.
Was lässt sich mit Blick auf China aus der Entwicklung Russlands lernen?
Der Versuch, Russland durch Kooperation als Partner zu gewinnen, ist gescheitert. Daher halte ich es mit Blick auf China für sinnvoll, ein sogenanntes De-Risking zu betreiben, also Risiken abzubauen, indem Europa alternativ investiert. Russland hat uns gelehrt: Einseitige Abhängigkeiten führen dazu, dass die andere Seite versucht, einen zu erpressen. Daraus müssen wir uns befreien, und in dieser Hinsicht ist auch die deutsche Wirtschaft gefordert. Große Hersteller, die weiterhin ihre Geschäfte in China machen, müssen sich vor Augen führen: Wenn es einmal zur Eskalation kommt, werden sie stark davon betroffen sein. Gerade in kritischen Bereichen müssen wir darauf achten, eine China-plus-eins- oder China-plus-zwei-Strategie zu fahren.
Sie haben zuletzt auch mehrere Diplomaten aus der Nahost-Region getroffen. Welchen Eindruck haben Sie aus den Gesprächen gewonnen?
Wir müssen aufpassen, dass die perfide Strategie der Terrororganisation Hamas nicht aufgeht. Sie sind mit großer Brutalität nach Israel eingedrungen, haben dort ein unbeschreibliches Massaker angerichtet und Geiseln genommen. Das hat Bilder produziert und das Kalkül der Hamas ist es, eine entsprechende Reaktion Israels hervorzurufen. Die ist aus israelischer Sicht legitim, denn die Regierung hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die Bevölkerung zu schützen. Es ist aber auch die Frage, in welchem Maße Israel reagiert, denn dies führt dazu, dass in arabischen Ländern das andere Narrativ bedient wird. Das Problem ist: Wie sind die Reaktionen auf der Straße? Der Konflikt kann zu weiterer Instabilität und letztendlich zu einer Eskalation führen.
Wie kann Deutschland zu einer Deeskalation beitragen?
Indem man alle diplomatischen Kanäle, die man hat, nutzt und - was bei der UN-Resolution leider gescheitert ist - auch versucht, sich mit europäischen Partnern und den USA abzustimmen. Bis zu diesem Konflikt hat das Außenministerium einen Umgang mit den arabischen Ländern gepflegt, der nicht unbedingt von Respekt, Vertrauen und Miteinander geprägt war. Um Gespräche über die deutschen Geiseln führen und an die Hamas herankommen zu können, ist Deutschland aber auf die Hilfe von Katar und Ägypten angewiesen. In den Gesprächen muss man alles daransetzen, diese Beziehung wieder ins Lot zu bringen und ein verlässlicher Partner sein. Der Flächenbrand, der noch immer droht, muss eingehegt und gleichzeitig geschaut werden, wie eine Lösung aussehen kann.
Was würden Sie sich für die restliche Legislaturperiode von der Ampel-Koalition wünschen?
Dass die Regierung in etlichen Punkten in der Realität ankommt. Unternehmen, die nicht standortgebunden sind, ziehen immer stärker in Betracht, Deutschland zu verlassen. Wir leben von der Substanz, und man ist auf Bundesebene nicht bereit oder nicht in der Lage, dieser Realität zu begegnen.
Was meinen Sie damit konkret?
Ich würde mir wünschen, dass man das Wort "Zeitenwende" auch einmal mit Leben füllt und im Inneren wie im Äußeren mehr Bereitschaft zur Verteidigung zeigt. Beim Thema Zuwanderung würde ich erwarten, dass man schnellstmöglich so handelt, dass die Kommunen in der Lage sind, mit dieser Herausforderung umzugehen, statt die Einbürgerung zu beschleunigen. Es gibt große Baustellen, und den Deutschland-Pakt, den der Kanzler vorgeschlagen hat, erachte ich eher als einen Verzweiflungspakt. Er merkt wohl, dass es ihm noch nicht einmal in seiner eigenen Koalition gelingt, etwas auf die Reihe zu kriegen.