Skigebiet Brauneck:Soko Skipiste

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Die Garland-Abfahrt ist die legendärste und steilste Piste auf dem Lenggrieser Hausberg Brauneck. (Foto: Benjamin Engel)

Alpin-Gutachter wie Alfred Siegert sollen den Unfallhergang klären, wenn Wintersportler verunglücken. Ihre Analysen dienen als Entscheidungsgrundlage bei Gerichtsprozessen. Ein Augenscheintermin am Lenggrieser Hausberg.

Von Benjamin Engel, Lenggries

Auf dem Brauneck ist Alfred Siegert an einem winterlichen Freitagnachmittag im Februar als Koordinator gefragt. Der 78-Jährige aus Übersee am Chiemsee steht unterhalb des ersten steilen Absatzes der Garland-Abfahrt mit seinen beiden Helfern Georg Hurm und Reinhard Buchner am Nordosthang im Schatten. Das macht die Arbeit bei fünf Grad Minus zwar ein wenig ungemütlich, aber die Sicht ist nicht durch Sonneneinstrahlung verblendet. Als einer von Siegerts Helfern mit der Radarpistole bergaufwärts zielt, ist der 150 Meter oberhalb an der Absatzkante wartende Lorenz Rasp gut zu sehen. Er wartet nur auf das Zeichen zum Losfahren und zieht dann mit weiten Carvingschwüngen talwärts. Nur die Neuschneeauflage bremst heute das flotte Tempo auf der ungewalzten Piste.

Gutachter Alfred Siegert (rechts) gibt Demonstrator Lorenz Rasp weiter oben am Hang das Zeichen zum Losfahren. Helfer Reinhard Buchner (links) zückt die Radarpistole. Georg Hurm (Mitte) assistiert mit der Fotokamera. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Das ist der größte Unterschied zum 29. Dezember 2018, als ein Münchner Alpinskifahrer an der Stelle, wo Siegert etwas mehr als drei Jahre später steht, folgenschwer stürzte. Der Mittdreißiger brach sich vier Brustwirbel. Er verklagte die Brauneck-Bergbahn vor dem Landgericht München II auf Schmerzensgeld. Der Grund: An der Unglücksstelle am Pistenrand hatte ein Holzpfosten aus dem Schnee geragt. Ob der Münchner deshalb so schwer verunglückte oder unabhängig davon stürzte, soll Gutachter Siegert klären helfen.

Dafür steht der pensionierte Polizeibeamte und staatlich geprüfte Skilehrer Rasp bereit. Als sogenannter Demonstrator soll der frühere Hauptkommissar der Alpinen Einsatzgruppe Traunstein stellvertretend für den Verunglückten - nach seinen schweren Verletzungen hat er derzeit noch zu viel Angst, wieder auf Skiern zu stehen - den Unfallhergang nachstellen und abfahren. Mit dem Verunglückten und dessen Rechtsanwältin Sarina Brix sei er mit den Bergbahn nach oben gefahren, berichtet er. "Ich habe ihn nach seinem Fahrstil gefragt, welche Radien er fährt, was für ein Skimaterial er fährt." Daran versucht er sich so genau wie möglich zu orientieren, um ein objektives Ergebnis zu gewährleisten.

Der staatlich geprüfte Skilehrer sowie Berg- und Skiführer Alfred Siegert ist seit Jahrzehnten Sachverständiger. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Das verdeutlicht, wie komplex und verantwortungsvoll die Aufgabe eines Gutachters wie Siegert ist. Seine Einschätzung kann für den Ausgang eines Prozesses entscheidend sein. Ob Siegert auch schon einmal schlecht schläft, wenn er ein Unfallgutachten erstellt? Darauf reagiert der 78-Jährige abgeklärt, was wohl auch mit seiner Lebenserfahrung zu tun hat. "Hier müssen alle Emotionen völlig außen vor bleiben", erklärt er. "Ich bin zu absoluter Objektivität und Neutralität verpflichtet."

Gerade wenn jemand schwer verletzt worden oder gar zu Tode gekommen sei, habe er die Aufgabe, das auszublenden. Anders könne er seiner Tätigkeit nicht nachgehen. Und wenn in einem Fall die Schilderungen der Beteiligten seiner Ansicht nach nicht zu den Unfallfakten passten, lehne er ein Gutachten ab. Etwa als im vorigen Jahr ein Wintersportler behauptete, nur zehn Stundenkilometer schnell gewesen zu sein, als er mit einer anderen Skifahrerin zusammenstieß.

Kollisionen unter Wintersportlern sind die klassischen Beispielfälle, warum Gutachter auf der Skipiste tätig werden. Ihre Berufssparte ist relativ neu, hat sich erst vor etwa drei bis vier Jahrzehnten professionalisiert. Damals hat auch Siegert begonnen, die ersten Gutachten zu erstellen. Insofern zählt er zu den Pionieren, was er aber gar nicht zu sehr betonen möchte. Er verweist sofort auf andere, an erster Stelle Pit Schubert.

Die Arbeit des heute 86-jährigen Gründers und langjährigen Sicherheitskreis-Leiters des Deutschen Alpenvereins (DAV) in Material und Ausrüstungskunde sei richtungsweisend. Siegert erwähnt Walter Kellermann, Peter Geyer und Peter Wiesent, die sicher die besseren Ansprechpartner als er selbst seien. So behauptet er.

Sie alle zählen zu einem kleinen Kreis. Wer im bundesweiten Verzeichnis der Industrie- und Handelskammern sucht, findet nur elf öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Berg-, Ski- und Lawinenunfälle. Eine überschaubare Zahl angesichts von um die 17 000 anderweitig spezialisierten Experten deutschlandweit. Körperschaften wie die Architekten-, Handwerks-, Industrie- und Handels-, Ingenieur oder Landwirtschaftskammern billigten den Sachverständigen ihre überdurchschnittliche Qualifikation und Seriosität mit der öffentlichen Bestellung und Vereidigung zu, so Katharina Toparkus, Sprecherin der IHK für München und Oberbayern. Voraussetzungen sind demnach besondere Sachkunde, praktische Erfahrung und persönliche Eignung. Die Bestellung ist auf fünf Jahre befristet und kann anschließend erneuert werden.

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In seinem Tätigkeitsspektrum hat sich Siegert inzwischen eingeschränkt. Gutachten für Berg- und Lawinenunfälle erstellt er nicht mehr. "Bei Skiunfällen fühle ich mich fit genug", sagt er. Äußerlich verraten allenfalls die weißen, unter dem Skihelm hervorspitzenden Haaransätze an den Schläfen und das wettergegerbte Gesicht sein Alter, mithin seine Lebenserfahrung. Doch die Schwungtechnik beherrscht er perfekt, wie die Abfahrt zeigt. Wie viele Gutachten über die Jahre zusammengekommen sind, hat Siegert nicht so genau mitgezählt. Irgendetwas zwischen 50 und 100 werden es schon gewesen sein, sagt er. Inzwischen bearbeite er noch um die drei Gutachten pro Jahr. Ihn reize die intellektuelle Herausforderung.

Dafür bringt er langjährige Kompetenz und Erfahrung mit. Siegert hatte zunächst Sport fürs Lehramt an Gymnasien studiert, entschied sich aber für eine Berufstätigkeit beim Alpenverein. Als staatlich geprüfter Skilehrer sowie Berg- und Skiführer war er in der Ausbildung tätig. Später war er bis 2002 DAV-Hauptgeschäftsführer.

Angesichts der jüngsten Häufung tödlicher Lawinenunfälle in Tirol spricht Siegert von schwierigen Fragen für Gutachter. Es gelte in derartigen Fällen etwa zu klären, ob Bergführer die nötige Sorgfaltspflicht beachtet hätten, einen möglichen Lawinenabgang hätten erkennen müssen oder den Schneedeckenaufbau mittels Schneeprofil geprüft hätten. Das im Nachhinein zu beantworten zähle zu den komplexesten Aufgaben.

Als Gutachter kann sich Siegert noch an einen Lawinenunfall mit Übungsleitern vor Jahrzehnten in einem Tiroler Skigebiet erinnern. Mehrere kamen um, als sie in einen Tobel einfuhren und sich vom Gegenhang eine viele hundert Meter breite Lawine löste. Die Bergbahn habe an diesem Tag zuvor vergeblich versucht, Lawinen zu sprengen, so Siegert. Weiter möchte er sich darüber nicht äußern.

Heute konzentriert sich Siegert nur noch auf Unfälle auf der Skipiste wie den am Brauneck. Auf der steilen Piste erreicht ein Wintersportler schnell 50 Kilometer pro Stunde und mehr. An den Unfallzeitpunkt erinnert sich der Verunglückte nicht mehr. Der Riss an seinem Helm spricht nur für die Heftigkeit des Aufpralls. Zur Aufklärung soll Siegerts Gutachten dienen. "Jede Situation ist unterschiedlich", sagt er. "Das macht es so interessant."

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