75. Jahrestag der Befreiung von Wolfratshausen:Mutige Kapitulation

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Am 30. April 1945 übergibt Major Karl Luber den Markt Wolfratshausen gegen die Absichten der SS kampflos an die amerikanische Armee. Der passionierte Hobby-Geschichtsforscher Christian Steeb dokumentiert die Ereignisse in einem Buch, das zum Jahrestag in erweiterter Fassung erscheint.

Von Felicitas Amler, Wolfratshausen

Die weiße Fahne hat für Christian Steeb eine ganz eigene Bedeutung. Einem Major, der am 30. April 1945 mit diesem Zeichen der Kapitulation auf die US-amerikanischen Befreier des Markts Wolfratshausens zuging, verdanke er sein Leben, sagt Steeb. Jedenfalls glaubt er: "Ohne diesen Dr. Karl Luber gäbe es mich nicht mehr." Ganz sicher aber ist, dass zwei andere Wolfratshauser den 30. April ohne Luber nicht überlebt hätten: Vize-Mesner Ignaz Leb und Mesnerswitwe Karoline Engelhardt. Ihnen hat der mutige Major das Leben ganz gezielt gerettet - und auch dies hat mit einer weißen Fahne zu tun.

Christian Steeb ist achtzig Jahre alt. Er kann sich an vieles erinnern, was er an jenem für Wolfratshausen entscheidenden Tag als Fünfjähriger erlebt hat. Zudem ist er ein emsiger Hobby-Geschichtsforscher. Seine Erkenntnisse über den Tag der Befreiung Wolfratshausens, der sich an diesem Donnerstag zum 75. Mal jährt, liegen als Buch vor. Es ist ein Stück akribischer Recherche und Zeitzeugenbefragung. Und eine nachdrückliche Würdigung Karl Lubers, der sich als Bataillonskommandeur der Landesschützen und Standortältester in Wolfratshausen den Absichten der SS widersetzte, den Markt bis zum Letzten zu verteidigen und der US-Army durch Sprengung aller Brücken den Weg der Befreiung gen Süden zu behindern.

Steeb beschreibt in seinem Buch "Der erste und der letzte Tag des Dritten Reiches in Wolfratshausen" die chaotische Tage vor der Befreiung, in denen es "auch im Isartal hektisch zuging". Die Front rückt näher, Wehrmachtsverbände setzen sich nach Süden ab, Parteibonzen wollen sich in die "Alpenfestung" retten, die SS missbraucht Rotkreuz-Wagen zur Tarnung, in der Luft allenthalben Tiefflieger auf der Suche nach Zielen, und in Föhrenwald wird eine Dienststelle des Oberkommandos des Heeres (OKH) etabliert.

Diese Dienststelle sollte, so Steeb, den Endkampf im Sinne der Durchhalteparolen des Generalfeldmarschalls Albert Kesselring organisieren. Bei einer Lagebesprechung deutscher Offiziere in Königsdorf war beschlossen worden, eine letzte Hauptkampflinie Wolfratshausen-Königsdorf-Bad Tölz aufzubauen. Luber sollte alle zwei Tage Bericht erstatten, wie weit diese Vorbereitungen gediehen seien. "Major Luber ist aber fest entschlossen, Wolfratshausen nicht zu verteidigen", schreibt Steeb.

Es folgen Ausschnitte aus Zeitzeugenberichten und Dokumenten, darunter eine von Luber unterzeichnete Erklärung aus dem Jahr 1947, wonach dieser "die Verteidigung des Abschnitts Wolfratshausen durch die Wehrmacht unter allen Umständen vereiteln" werde. Luber berichtet, wie er mit einem Vertrauten die angeordnete Ausrüstung des Volkssturms mit 1300 Gewehren verhinderte. Er fasst am Ende zusammen: "Die Demobilisierung des Volkssturms und die Nichtbesetzung der Panzersperren durch den Einfluss von mir auf den Volkssturmkommandanten hat ebenfalls dazu beigetragen, dass ich in den Abendstunden des 30. April die Stadt in Begleitung meines Adjutanten den Amerikanern kampflos übergeben konnte."

Major Karl Luber (Foto: Archiv Christian Steeb /oh)

Bis es soweit ist, macht der Geschichtsschreiber es aber noch spannend. Steeb erläutert die näheren Umstände, leuchtet Hintergründe aus, lässt Zeitzeuginnen zu Wort kommen, dokumentiert schließlich den 30. April 1945 im Stundentakt. Es beginnt mit einem gewaltigen Transport von der Sprengstofffabrik im Wolfratshauser Forst in den Ort. Etwa 70 Zentner Nitropenta - ein hochexplosiver Stoff - werden per Traktoranhänger zu den Wolfratshauser Brücken gebracht; die Kanalbrücke bei Föhrenwald und die beiden Loisachbrücken sollen in die Luft gejagt werden.

Gleichzeitig spielt sich ein dramatischer Zwischenfall ab. Bürgermeister Heinrich Jost hat seinen von den Nazis abgesetzten Vorgänger Hans Winibald ins Rathaus geholt - "eine Art Rückversicherung", wie Steeb anmerkt. Jost jammert, dass immer die Kleinen zur Rechenschaft gezogen würden. Winibald verkennt nach Steebs Worten die Lage und weist den Vize-Mesner Ignaz Leb und die Mesnerswitwe Karoline Engelhardt gegen den Willen von Pfarrer Otto Schneller an, am Kirchturm von Sankt Andreas die weiße Fahne zu hissen.

Sobald das Symbol der Unterwerfung zu sehen ist, schießt die SS darauf. "Schwer bewaffnete SS-Leute riegeln sofort die Ausgänge der Kirche ab und fahnden nach den Urhebern", schreibt Steeb. Leb und Engelhardt werden in der Sakristei entdeckt und sollen sofort erhängt werden. "Als die beiden schon zur Exekution an der Kirchenwand aufgestellt sind, bittet ein Mädchen mit dem Namen Christl Bullinger die SS-ler vergeblich um Gnade."

Hilfe kommt hingegen in Gestalt des Majors Luber und seines Adjutanten Ludwig Kollmeier, welche die Mesnersleute in "Schutzhaft" nehmen. Luber argumentiert gegenüber der SS, er als Kampfkommandant habe in dieser Sache zu entscheiden. Ohne Standgericht, so erklärt er im weiteren Verlauf, könne kein Todesurteil vollstreckt werden. Und durch einen fiktiven Panzeralarm wimmelt er die SS ab.

Doch damit der Spannung noch nicht genug. Parallel laufen die Versuche der SS, die Brücken zu sprengen, was an der oberen Loisachbrücke - der Johannisbrücke - gelingt; an der unteren aber am Widerstand einer Gruppe scheitert, die Steeb als "Brückenhelden" verewigt. Die Männer werfen in einer lebensgefährlich mutigen Aktion die vorbereiteten Kisten mit dem Sprengstoff in die Loisach.

Kurz vor dem Einmarsch der amerikanischen Armee kommt es noch zu einem spektakulären Luftangriff, bei dem ein Munitionstransporter lichterloh brennt - den Explosionspilz habe man bis Königsdorf gesehen, berichtet eine Zeitzeugin, die im Buch zitiert wird.

Endlich, laut Steebs Eintrag um 19 Uhr, "ist plötzlich Aufheulen der Motoren und das Kettengeräusch der sich über die Serpentinen nähernden schweren amerikanischen Panzer zu hören". Und nach einer von Luber beendeten Konfrontation zwischen US-Army und SS-Sprengkommando geht der Major zusammen mit seinem Adjutanten den Amerikanern mit der weißen Fahne entgegen. "Die Parlamentäre treffen zwischen dem Mühlberg und der Gaststätte 'Grüner Baum' aufeinander. Luber bietet die Kapitulation an."

Endlich Frieden? Nicht ganz. Es folgt noch eine letzte dramatische Wendung. Die obere Loisachbrücke fliegt in die Luft. Niemand stirbt, aber die Schäden ringsum sind enorm. Steeb hat den Knall als Fünfjähriger gehört. "Die Explosion der oberen Brücke - das war kein Schweizer Kracher", sagt er heute lakonisch. Und ist sich sicher: Wäre die untere Brücke gesprengt worden, nur hundert Meter von seinem Elternhaus entfernt, und wäre er im Garten gewesen, hätte es ihn wohl das Leben gekostet.

Der "entschlossenen Haltung" des Majors Karl Luber, seinem "professionellen Eingreifen" verdankt Wolfratshausen jedenfalls nach Steebs Überzeugung einen glimpflichen Ausgang des 30. April 1945.

Christian Steeb: "Der erste und der letzte Tag des Dritten Reiches" ist vom Gedenktag 30. April an in stark erweiterter Form erhältlich; Buchhandlung Rupprecht, 39 Euro

© SZ vom 30.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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