Liederabend:Lieder des Schmerzes

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Zerrissen, aufregend, unabdingbar: Ian Bostridge singt Schuberts "Winterreise" bei den Opernfestspielen.

Von Egbert Tholl, München

Ian Bostridge hat sich ein wenig rar gemacht auf den Bühnen hierzulande. Vielleicht ist dafür Corona ein Grund, wie auch immer, das Wiedersehen mit dem englischen Tenor ist ein Erlebnis. Bostridge war immer schon ein diaphanes Medium, jetzt scheint die Musik gänzlich durch ihn hindurch zu strömen, ihn mitzureißen, als sei er wehrlos gegen die Emotionen, die sie in seinem Inneren auslöst.

Bostridge singt bei den Opernfestspielen im Prinzregententheater Schuberts "Winterreise", Antonio Pappano ist sein Partner am Klavier. Pappano begleitet nicht, er behütet Bostridge, gibt ihm Halt, liebkost die Tasten, wo nur eine Idee von Poesie nötig ist, stürzt sich in krasse Ausbrüche, wo Bostridge im Überschwang zu enteilen droht. Am Ende umarmt er den Sänger, voll stillen Lobs und Anerkennung.

Der Abend ist nicht geeignet für Liebhaber akademisch abgesicherten Musizierens. Bostridge interpretiert keinen Zyklus, keine Geschichte über 24 Stationen, sondern eine Ansammlung einzelner Lieder, die scheinbar zufällig unter dem Titel "Winterreise" zusammengefasst sind. Die Gesamtanlage ist völlig zerrissen, aber viele der einzelnen Lieder sind es bei ihm in sich. Da kann für ein, zwei Worte die ganz große, auch harte Operngeste ausbrechen, dann sinkt Bostridge wieder in sich gekehrt zurück, hält sich am Flügel fest, um dann gleich zwei, drei Meter vorzuspringen. Mal sucht er den direkten Kontakt zum Publikum, wie eine Aufforderung, ein Fanal, als müsse er einen Bericht loswerden, der gehört werden muss, die Dynamik pulst in Explosionen. Dann steht er wieder da wie ein Schmerzensbild, knetet die Hände, ballt sie zur Faust. Alles, was Bostridge an diesem Abend tut, hat eine faszinierende Unabdingbarkeit. Nicht immer versteht man den Text, stets aber versteht man die Haltung. Einmal lächelt er, und man wünschte ihm, er könnte es öfters tun, geht aber nicht, zu sehr lebt er in den Liedern des Schmerzes.

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