"Das baierisch Volk ... läuft gern Kirchferten, hat auch vil Kirchfahrt", stellte der humanistische Geschichtsschreiber Johannes Thurmair, genannt Aventinus, schon im Jahr 1533 fest. Angesichts der Fülle an Wallfahrtstätten in Bayern und der Begeisterung fürs Pilgern ist ihm bis heute nicht zu widersprechen. Fromme Reisen zu heiligen Orten haben hierzulande eine lange Tradition. Die Statistik zählt allein mehr als 450 Marienwallfahrten. Eine der bekanntesten und ältesten ist die Holzkirchner Kerzenwallfahrt an Pfingsten.
Pilgern mit der "langen Stang"
1475 war das Dorf Holzkirchen, heute ein Gemeindeteil von Ortenburg im Landkreis Passau, wegen einer existenzgefährdenden Borkenkäferplage am Verzweifeln. In ihrer Not "verlobten" sie sich zur Lieben Frau auf dem Bogenberg und versprachen, ihr alljährlich eine lange Kerze zu bringen. Die Plage wich tatsächlich. Seither tragen die Holzkirchner ihre "lange Stang" auf den niederbayerischen Berg, nur gestoppt vom 30-jährigen Krieg, der Säkularisation und später noch einmal durch den Zweiten Weltkrieg.
Sie sind nicht die einzigen, die regelmäßig kommen, 17 Gemeinden pilgern jedes Jahr zum Marienheiligtum auf den Bogenberg. Nur die Holzkirchner haben eine knapp 13 Meter lange Kerze mit dabei, genau genommen einen mit rotem Wachs umwickelten Fichtenstamm. Den größten Teil der 75 Kilometer langen Strecke, den sie an zwei Tagen bewältigen, wird sie liegend getragen, an bestimmten Stationen des Wegs aber muss sie stehend balanciert werden, auch den engen Steig auf den Bogenberg hinauf. Einer trägt die "lange Stang", die anderen Burschen laufen neben ihm her, jederzeit zur Ablöse bereit, wenn der Träger ins Stocken gerät. Wäre kein gutes Zeichen, wenn sie umfallen oder brechen würde. Laut Legende deutet das einen Krieg an oder eine Hungersnot, jedenfalls nichts Gutes. Angeblich ist sie vor beiden Weltkriegen 1913 und 1938 gekippt, 1938 beim Probetragen sogar zerbrochen.
Die Schwarze Madonna in Altötting
Meist bestand das "votum", also die Gabe, die die Wallfahrer gelobt hatten mitzubringen, aus kleineren Kerzen oder gestifteten Messen. Oft wurden auch symbolische Abbildungen geopfert, die an die überstandene Krankheit oder einen Unfall erinnerten: Einzelne Glieder aus Wachs, Holz oder Silber, gemalte Tafeln, die das überstandene Übel schildern. Manchmal schleppten die Pilger als Buße für ein Vergehen schwere Kreuze mit sich, ein Brauch, der sich in Altötting erhalten hat. Dort umrunden manche die Gnadenkapelle mit Kreuzen in der Hoffnung, eine größere göttliche Gnade zu erhalten. Die Schwarze Madonna von Altötting dürfte um 1330 aufgestellt worden sein. Doch erst 150 Jahre später wird sie zum Wallfahrtsziel, nachdem sich 1489 das erste Wunder ereignet. Ein Bub fällt in den Mörnbach, wird tot herausgezogen und erwacht dank der Fürsprache der Muttergottes wieder zum Leben. Von da an reißen die wundersamen Erhörungen und die Flut der Wallfahrer nicht mehr ab. Inzwischen ist der überdachte Gang, der um die Gnadenkapelle führt, tapeziert mit Votivbildern. Drinnen wartet die Schwarze Madonna inmitten eines goldenen und silbernen Altaraufbaus. Im Augenblick wird die Gnadenkapelle aber generalsaniert, die Schwarze Madonna ist in die Stiftspfarrkirche umgezogen.
Maria Ramersdorf
Die Ehre, die älteste bayerische Marienwallfahrt zu sein, gebührt nicht Altötting, sondern der Kirche Maria Ramersdorf in München, deren Marienbild schon Anfang des 14. Jahrhunderts Ziel vieler Wallfahrer war. Als 1379 Herzog Otto V., der Sohn Kaiser Ludwigs des Bayern, der Kirche einen in Gold gefassten, angeblich echten Kreuzpartikel schenkte, geriet das Marienbild ein wenig ins Hintertreffen, die Wallfahrt zum Heiligen Kreuz boomte. Wer mehr über diese und viele andere Wallfahrtsstätten erfahren will: Dorothea Steinbacher hat eben das Buch "111 Wallfahrtsorte in Oberbayern, die man gesehen haben muss" (Emons Verlag) veröffentlicht. Darin beschreibt sie, kurz und knapp jeweils auf einer Doppelseite, die meisten der hier erwähnten Orte, ergänzt durch Einkehrtipps und Anfahrtsmöglichkeiten.
Kreuzsplitter in Andechs
Da die Menschen einst glaubten, die Kraft des Heiligen habe sich in seinem Leichnam, den Kleidern und sonstigem Besitz erhalten, war es das höchste Ziel der frühen Pilger, nicht nur Erde oder getrocknete Pflanzen von den heiligen Stätten mitzubringen, sondern ein Stückchen vom Kreuz Christi, einen Kleiderfetzen oder gar den Knochensplitter eines Heiligen. Die begehrten Überbleibsel, die Reliquien, wurden zu Hause in den Kirchen ausgestellt und bildeten oft den Grundstock für spätere Wallfahrtsorte. Die ersten Pilger, die sich im 4. Jahrhundert auf die Reise machten, besuchten noch die Orte, an denen Jesus gewirkt hatte. Auch die Gräber der Apostel Petrus und Paulus in Rom oder das Grab des Jakobus in Santiago di Compostela zogen die Gläubigen an. Erst im späten Mittelalter in einer Zeit verheerender Kriege und mörderischer Seuchen wurden die Pilgerreisen durch Wallfahrten abgelöst.
Als eine der ältesten Wallfahrten Bayerns gilt Andechs. Schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts verpflichtete Graf Berthold II. von Andechs seine Untertanen zur alljährlichen Verehrung der Reliquien, des sogenannten "Heiltums", in der Nikolauskapelle. Zum berühmten "Heiltumsschatz" der Andechser gehören unter anderem ein Zweig der Dornenkrone, ein Splitter vom Kreuz Christi sowie kostbare Textilreliquien. Als allerdings immer mehr Pilger angeblich echte Kreuzfragmente mitbrachten, spottete Erasmus von Rotterdam im 16. Jahrhundert, die Splitter reichten längst aus, um ein ganzes Schiff zu bauen. Den Enthusiasmus der Wallfahrer beeinträchtigte das nicht.
Benediktbeuern und das Kochelseewunder
Maria ist zwar eine wichtige Fürsprecherin, aber beileibe nicht die einzige Mittlerin, an die sich die Gläubigen wenden. Jeder Heilige hat seine persönlichen Attribute und Zuständigkeiten. Das älteste individuelle Attribut ist der Schlüssel des Petrus, bereits im 12. Jahrhundert auf Fresken zu sehen. Die Zuständigkeiten entwickelte der Volksglaube aus dem Martyrium oder den meist nur via Legende übermittelten Lebensumständen. Valentin verdankt sein Patronat gegen die Fallsucht, die Epilepsie, sogar vermutlich nur einem Gleichklang von Wörtern: Valentin, fall ned hin.
In Benediktbeuern verehrt man Anastasia, die Fürbitterin für Kopf- und Nervenkranke, ermordet während der Christenverfolgung 305. Die Reliquien der Märtyrerin, unter anderem ihre Kopfschale, kamen 1053 aus Verona ins Klosterdorf. Zur Schutzpatronin aller Einheimischen avancierte die Heilige, als sie 1704 im Spanischen Erbfolgekrieg den Föhnwind schickte, der das Eis im damals noch deutlich größeren Kochelsee schmolz und es so den österreichischen Soldaten unmöglich machte, das Dorf zu erreichen. Aus Dankbarkeit für das "Kochelseewunder" ließ ihr der Abt an der Nordostseite der Basilika eine Kapelle bauen, ein herrliches Rokoko-Gesamtkunstwerk auf ovalem Grundriss.
Gebaut auf steilem Fels: die Pankraz-Kirche
"Wenn man recht ins Schnaufen kommt, ist die Wallfahrt wirksamer", zitiert Dorothea Steinbacher einen alten Spruch. Wenn das stimmt, lohnt es sich auf jeden Fall, die 254 Stufen zur Pankrazkirche hinaufzuklettern, seit dem Mittelalter eine Wallfahrtstätte auf dem gleichnamigen Felsen im Bad Reichenhaller Stadtteil Karlstein, nur wenige Schritte entfernt von der Burgruine Karlstein. Pankraz war Patron der Ritter, weshalb er den benachbarten Burgherren wohl sympathisch war. Später bat man den Heiligen um günstiges Wetter, er ist einer der Eisheiligen.
Kötztinger Pfingstritt
Wer ein Bad in der Menge nicht scheut, der ist beim Kötztinger Pfingstritt richtig. Die große Pferdewallfahrt findet alljährlich am Pfingstmontag statt und ist bis heute eine reine Männersache. Der Legende nach wurde der Pfarrer von Kötzting 1412 nachts zu einem Schwerkranken nach Steinbühl gerufen, um ihm die Sterbesakramente zu spenden. Der Priester wagte den gefährlichen Weg nicht allein, junge Männer begleiteten ihn. Zum Dank für den geglückten Gang gelobten sie eine alljährliche Pfingstwallfahrt nach Steinbühl. Inzwischen nehmen an die 900 Reiter auf prächtig geschmückten Pferden teil, die in Bad Kötzting startet und zur Wallfahrtskirche in Steinbühl zieht. Von dort geht es nach einem Gottesdienst wieder zurück in den Ort. Um das Gelübde zu erfüllen, wurde der Ritt auch in den Corona-Jahren 2020 und 2021 absolviert, allerdings nur mit drei Reitern. Heuer freilich dürften es wieder deutlich mehr werden.