Typisch deutsch:Ein Blick hinter die Schale

Lesezeit: 2 min

Ein Halloween-Kürbis aus dem Jahr 2021, gesehen in der Berenterstrasse in München-Denning. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Unser Autor bekam im syrischen Gefängnis Kürbisse mit kleinen Kieselsteinen vorgesetzt, die Verletzungen im Mund verursachten. Kann er die orange Frucht je wieder verzehren?

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Die Flucht nach Deutschland führte mich und die anderen von Serbien bis nach Ungarn. Drei Tage und Nächte verbrachten wir im Wald und auf den Feldern, da wir weder in Serbien bleiben, noch in Ungarn einreisen durften. Auf der Suche nach Essbarem entdeckten wir ein Kürbisfeld. Mit den Händen gruben wir ein Loch in die orangefarbene Frucht und entfernten die Kerne. Wir fühlten uns wie Füchse, die versuchen, eine Wassermelone zu verspeisen.

Es war nicht ganz so bitter wie einst, als ich in Syrien im Gefängnis saß. Damals brachten die Wärter halbgekochte Kürbisstücke auf kleinen Tellern. Wir schlangen die Mahlzeit regelrecht hinunter. Doch die Kürbisstücke waren mit winzigen Kieselsteinen vermischt, die beim Essen Wunden im Mund verursachten. Eine Art der Demütigung und Folter.

Typisch deutsch
:Von Messern und Maronen

Unser Autor kennt die Gefahren des Schwammerlsuchens. In München findet er schon mal giftige Pilze - und trifft auf einen Mann mit Messer.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Nach unserer Ankunft in Deutschland verbrachte ich zunächst einige Monate im Flüchtlingscamp. Junge Helfer von der Universität kamen mit einem großen Topf und einem riesigen Kürbis. Die Szene verpasste mir einen inneren Stich. Das Knirschen der Kiesel zwischen den Zähnen war wieder da.

Ich entschied mich dennoch, den Überbringern des Kürbis Komplimente zu machen. Wir schälten ihn, wie es sich gehört. Dann jedoch sollten wir ihn in kleine Stücke schneiden und in eine Schüssel für den Mixer legen. Für den Mixer?

Der Gedanke ließ mich spontan einen Speikübel herbeiwünschen. Aus Syrien kannte ich nur eine Methode: Alles in großen Stücken in den Ofen schieben. Ich musste mich beherrschen, um nicht abzuhauen. Der gute Geruch half mir dabei. Die Suppe duftete wider Erwarten sehr gut. Und das Wetter war so schön herbstlich: bunte Blätter im Sonnenuntergang.

Die Studenten kippten die frische Suppe in die Schüsseln und garnierten sie mit finsterem Öl und einer Sahnehaube. Die meisten von uns waren äußerst zögerlich bei diesem seltsamen Arrangement. Ich war unsicher, ob ich zugreifen sollte oder nicht. Schließlich nahmen wir ein Stück Brot, tunkten es in die Suppe und probierten. Die anfänglich bedrückende Situation verwandelte sich in eine köstliche Mahlzeit.

Mit jedem Herbst in diesem Land ist meine Verbindung zu Kürbissen intensiver geworden. Was nicht an der Fratzen-Hülle der Halloween-Freunde liegt, sondern am Inhalt. Wenn das Wetter kalt ist und Laub fällt, stehe ich in der Küche und bereite die köstlich-farbige Suppe zu. Der Kerker ist weit weg, bei mir entsteht ein Gefühl wie beim Plätzchenbacken zur Weihnachtszeit. Das Leben schmeckt besser, wenn man hinter die Schale blickt.

© SZ vom 29.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ-Kolumnisten
:Wenn die Bleibe zum Zuhause wird

Drei geflüchtete Journalisten schreiben in der neuen SZ-Kolumne "Typisch deutsch", wie München sie verändert hat.

Von Korbinian Eisenberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: