Ein Buch, das Klasse hat:Vom Aufstieg in die Einsamkeit

Lesezeit: 4 min

Martin Kordić, Schriftsteller und Lektor, lebt seit sieben Jahren in München. (Foto: Peter Hassiepen)

Martin Kordićs Roman "Jahre mit Martha" wird in diesem Jahr mit dem Tukan-Preis für das herausragende Buch eines Münchner Autors ausgezeichnet. Es ist ein Klassen-, Herkunfts- und Liebesroman, in dem der Schriftsteller jedoch alle Zuschreibungen unterlaufen will - und sich stattdessen das Glück vorstellt. Eine Begegnung.

Von Antje Weber

Die Welt erwartet nichts von einem wie Željko. Da können die kroatischen Eltern in Ludwigshafen noch so schuften, der Vater als Bauarbeiter, die Mutter als Putzfrau. Da mag der Sohn noch so intelligent sein, sein Wissen mit Zeitungen aus dem Altpapiercontainer mehren, im Gymnasium als Jahrgangsbester glänzen: Der Berufsberater schlägt ihm vor, nach der zehnten Klasse abzugehen und - Gärtner zu werden.

Es sind solche Demütigungen, die den Jugendlichen Željko im Roman "Jahre mit Martha" (S. Fischer) wütend machen. "Viel schmerzhafter" jedoch findet dessen Autor Martin Kordić die Szene, die sich im Roman anschließt: Wie Željko sich nicht kleinkriegen lassen will, sondern ein Super-Abi schaffen und studieren will. Wie er zu seinem großen Bruder sagt: "Wir müssen besser sein. Wir müssen die Besten sein." Und der nur antwortet: "Das ist nichts für Kinder wie uns."

Dass irgendwann "gesellschaftliche Zuschreibungen so sehr in das eigene Denken, das eigene Bewusstsein eingesickert sind, dass man sie selbst glaubt", beschäftigt Martin Kordić. Der 1983 in Celle geborene und in Mannheim aufgewachsene Schriftsteller hat sich damit in seinem zweiten Roman "Jahre mit Martha" intensiv auseinandergesetzt - und wird dafür an diesem Montag mit dem Tukan-Preis für den herausragendsten Roman eines Münchner Autors ausgezeichnet. Das sei "eine schöne Bestätigung", sagt Kordić bei einem Gespräch im Café Ruffini in Neuhausen; seit sieben Jahren lebt er in München, arbeitet als Belletristik-Lektor im Hanser-Verlag. Und hat hier nach Jugendjahren der Unrast das Gefühl, "ruhiger zu sein, im Leben angekommener".

Wer dazugehört - und wer nicht

Auch sein ruhelos suchender Protagonist Željko wird am Ende gefestigt wirken. Und im Rückblick, wie der Ich-Erzähler auf den ersten Seiten verrät, seine "Irrwege" in eine "Dramaturgie sortieren", die auf ein "versöhnliches Ende" zusteuern soll. Ob das Ende wirklich so versöhnlich ist? Darüber wird noch zu reden sein. Zunächst aber gilt es, sich klarzumachen, wie vielschichtig dieser Roman ist - und dass kein Label ihm gerecht wird.

Natürlich spielt die geografische Herkunft im Roman eine Rolle, doch den Klassenaspekt findet Kordić selbst interessanter. Der Autor will jeden Automatismus verhindern, in dem ein Migrationshintergrund mit Unterschicht gleichgesetzt würde, "das ist ja totaler Quatsch". Nach fast jeder seiner vielen Lesungen - deren Termine er im inneren Buchdeckel als Liste notiert hat - kämen Zuhörer auf ihn zu, die in seinem Buch "Teile ihrer eigenen Geschichte gewürdigt sehen und das vorher nicht so oft gefunden haben", erzählt er. Das habe meist mit dem Klassenthema zu tun. Anders formuliert, mit dem Gefühl: Wer arm ist, gehört nicht dazu.

Doch es geht nicht nur um Geld, sondern auch um den Zugang zu Wissen - dies ist auch ein Bildungsroman. Es geht um die komplexe Beziehung des jungen Željko zur älteren Professorin Martha, die Bildung samt Wohlstand verkörpert - es ist auch ein komplexer Liebesroman. In dem sich überhaupt ein verunsicherter Jugendlicher selbst finden muss - eine Coming-of-Age-Geschichte also. Nicht zuletzt ist das Buch auch ein München-Roman, der quer durch die Stadt ins Olympische Dorf oder eine Villa in Gern führt. Doch Schluss mit den Etikettierungsversuchen, schließlich geht es Kordić in seinem Buch darum, "Zuschreibungen jeder Art zu unterlaufen". Vielleicht ist "Jahre mit Martha" also einfach ein Roman über die Suche nach dem Glück: nach dem inneren Frieden, den jeder und jede für sich selbst finden muss. Und einem äußeren Frieden, der eng mit der Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft zusammenhängt.

Željko jedenfalls strampelt sich ab, um seinen Platz zu finden. Er nennt sich geschmeidig Jimmy, macht ein glänzendes Abitur, wählt München als "Zentrum aller Kroaten in Deutschland" als Studienort und jobbt nebenher in einem "Balkan Grill". Doch obwohl er den Uni-Abschluss schafft, obwohl er eine gut bezahlte Arbeit findet: Er fühlt sich schrecklich verloren. "Soziale Aufstiegsgeschichten sind oft Einsamkeitsgeschichten", sagt Kordić. Auch von einer solchen "Verlustgeschichte" will er erzählen. Davon, wie allein sich ein Aufsteiger fühlt, der die Regeln anderer Milieus nicht kennt und keine passenden Vorbilder.

Die Angst ist noch präsenter als die Wut

Was das alles mit ihm selbst zu tun hat? "Das ist nicht meine Geschichte", stellt Martin Kordić klar, "aber ich stecke vollständig in dem Roman". Die Distanz zu seinen Figuren ist ihm wichtig. Er selbst hat zum Beispiel zwar einen kroatischen Vater, aber eine deutsche Mutter; er kennt München gut, hat hier jedoch nicht studiert. Das Lebensgefühl des jungen Željko allerdings, der sich nicht zugehörig fühlt, ist ihm vertraut. Und auch dessen Bewältigungsstrategie, im Schreiben seinen Alltag zu dokumentieren, sein Leben zusammenzuhalten: "Seit meiner Jugend schreibe ich auf, was mich umgibt. Anfangs interessierte ich mich dabei nicht für mein Inneres. Ich versuchte, überhaupt ein Inneres herzustellen", lässt er Željko sagen. Und er kann sich auch mit einem Satz der von ihm verehrten Schriftstellerin Hertha Kräftner identifizieren: "Ich habe Angst und beruhige mich mit Schreiben."

Die Angst ist in diesem Roman, der in den späten Neunzigern und ersten Zweitausenderjahren spielt, mehr noch als die Wut ein prägendes Gefühl, bis hin zur Depression. Željko strauchelt, verlässt den Karriereweg, findet wieder Zuflucht bei der Familie - und wird doch tatsächlich Gärtner. Kordić findet das "schön und metaphorisch" in seiner Doppeldeutigkeit: "Ich säe etwas aus, ich baue etwas an, ich schlage Wurzeln. Ich kultiviere das Land." Es gibt noch mehr an Ambivalenzen, an Subtext in diesem Roman; das gehört zu seinen großen Qualitäten. Denn Kordić lässt seinen Protagonisten zwar am Ende in einem Reihenhaus im Kreise der erweiterten Herkunftsfamilie zur Ruhe kommen. Die Familie versucht dort jedoch, von den NSU-Morden eingeschüchtert, unsichtbar zu werden und tarnt sich mit einem deutschen Nachnamen. Es ist ein Rückzug in Resignation, eine "trügerische Idylle", wie Kordić bestätigt. Man könnte auch sagen: ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.

Vom Glück der Gemeinschaft

Ob man den Schluss positiv oder negativ deutet, ist aber womöglich gar nicht so zentral. "Vielleicht hat das Ende einfach beides gleichermaßen", sagt Martin Kordić. Und vielleicht ist es auch viel wichtiger, die schiere Möglichkeit eines Glückes zu beschwören. In seinem ersten Roman "Wie ich mir das Glück vorstelle" erzählte Kordić von einem Jungen im kriegsversehrten Bosnien - und von dem Glück, das dieser in der Gemeinschaft und Fürsorglichkeit einer Elefantenherde witterte. In "Jahre mit Martha" ist es nun die Gemeinschaft einer Familie, die Schutz und Wärme bietet. Vielleicht seien die Parallelen so auffallend, weil in beiden Romanen die Einsamkeit eine so große Rolle spiele, sagt Kordić. In beiden finde man im Schlussbild "eine Sehnsucht, die sich da erfüllt". Zumindest im Schreiben.

Tukan-Preis an Martin Kordić, Öffentliche Verleihung und Lesung , Montag, 5. Dezember, 19 Uhr, Literaturhaus München, Salvatorplatz 1

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: