Von Montag bis Freitag ist die Nacht für Lena um fünf Uhr zu Ende. Eine halbe Stunde später verlässt ihre Mutter das Haus und dann ist niemand mehr da, der sie rechtzeitig zur ersten Schulstunde wecken könnte. "Das macht nichts", sagt das Mädchen mit den langen blonden Haaren leise, "ich räum' dann ein bisschen rum, das, was andere halt am Abend machen." Vor vier Jahren ist der Vater der Achtklässlerin an Krebs gestorben, vor bald drei Jahren ihr Bruder mit schwerer ADHS-Diagnose und Pflegegrad II in eine Jugendhilfe-Wohngruppe ins Allgäu gezogen.
Um über die Runden zu kommen, hat ihre Mama, Manuela S., zwei Jobs angenommen. Für den als Lagerarbeiterin verlässt sie die Wohnung um 5.30 Uhr. Zweimal die Woche hat sie noch eine Stelle im Verkauf, zusammen macht das eine Wochenarbeitszeit von 45 Stunden. "Das ist okay. So haben wir Ende des Monats noch was im Kühlschrank und alle Rechnungen sind bezahlt", sagt Manuela S. Die 46-Jährige ist eine Frau, die beherzt lachen kann. Und jetzt lacht sie: "Wir brauchen keine staatliche Unterstützung!"
Ende 2022 galten 265 600 Münchnerinnen und Münchner als armutsgefährdet. Das sind 17 Prozent der städtischen Bevölkerung. "Bei Kindern richtet sich die Armutsgefährdung nach der Armutsgefährdung der Eltern", sagt eine Sprecherin des Sozialreferats. Von Haushalten mit Kindern sind 19 Prozent betroffen und damit 46 800 der über 247 000 in München lebenden Minderjährigen. Bei Alleinerziehenden-Familien liegt die Quote bei 37 Prozent und damit doppelt so hoch wie bei Familien insgesamt.
Auch als Manuela S. noch nicht alleinerziehend war und gemeinsam mit ihrem Mann für das Familieneinkommen sorgte, war das Leben kein Zuckerschlecken. "Wir waren nie reich, Urlaube nie drin, wir sind aber gut über die Runden gekommen." Das liegt auch daran, dass sie in einer Genossenschaftswohnung leben, drei Zimmer, 74 Quadratmeter, 941 Euro Miete. "So was krieg' ich in München nie wieder." Die 46-Jährige streicht Fritz, der sich auf der großen anthrazitfarbenen Couch-Ecke neben Mutter und Tochter ausgestreckt hat, übers getigerte Fell. Zwei seiner Katzengeschwister leben seit acht Jahren mit ihm in der Familie. "Ja", sagt Manuela S., "die Katzen kosten auch Geld."
Aber die Katzen leisten Lena in aller Herrgottsfrühe auch Gesellschaft und sie sind eine Verbindung zur Vergangenheit, als der Papa noch gesund und die Familie komplett war. "Meine Tochter war viel daheim, als mein Mann krank wurde, dann ging Corona los." Lena streift mit dem Blick ihre Mutter, Tränen machen sich auf den Weg über ihre Wangen. Die 13-Jährige steht auf und geht aus dem Wohnzimmer. Manuela S. schaut ihr nach. "Ich war nicht da, ihr Bruder war nicht da, sie war traurig und in sich gekehrt." Weil es der Familienetat nicht mehr hergab, haben die Großeltern, die nebenan wohnen, Lena für den Online-Unterricht ein Handy gekauft. Damals ihr Fenster nach draußen.
Einschließlich Witwenrente und Kindergeld hat Manuela S. gut 2800 Euro an monatlichen Eingängen. Nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs sind die Nebenkosten nach oben geschossen. "Die Stromrechnung hat sich verdoppelt", sagt die Münchnerin, "140 Euro Nebenkosten mehr im Monat, alles hat nicht mehr ausgereicht". Für Lena hieß das: Kein Kino mehr, keine Brotzeit in der Schule kaufen, die Haare schneidet jetzt die Mama.
Die Witwe hat die Erfahrung gemacht, dass sich bei Kindern viele Freundschaften nicht entwickeln, wenn daheim das Geld knapp ist. "Das isoliert Kinder." Sie selbst hätten gemeinsame Spaziergänge gemacht, "das kostet ja nix". Was ihrer Tochter geholfen habe, nach den Corona-Shutdowns wieder in die Schule zu gehen. "Sie hat Mädels um sich rum, denen es ähnlich geht. Es gibt sehr, sehr viel mehr Leute, die wenig haben, als andersrum."
Einer Analyse der Bertelsmann-Stiftung vom Januar 2023 zufolge ist in Deutschland jedes fünfte Kind unter 18 Jahren von Armut bedroht. Für zwei Drittel sei dies ein Dauerzustand. "Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat deutlich schlechtere Zukunftschancen" heißt es in der Studie. Diese Kinder hätten öfter keinen Computer mit Internet, seien seltener Mitglied in einem Verein, müssten bei Lehrerinnen oder Trainern stigmatisierende Anträge für Klassenfahrten oder Freizeitaktivitäten stellen. Sie kämen aus ihrer eigenen Lebenswelt nicht heraus. Viele verstecken sich.
Lena ist inzwischen fast unbemerkt wieder ins Wohnzimmer gekommen, wo ihre Mutter neben der Couch vor einiger Zeit ihr eigenes Bett aufgestellt hat. Sie wollte Platz schaffen, damit jedes der Kinder ein eigenes Zimmer, einen Rückzugsort, hat. Der 15-jährige Sohn kommt am Wochenende und in den Ferien immer heim. "Nach dem Tod meines Mannes war es sehr schwierig mit ihm", sagt Manuela S. "In der Einrichtung macht er jetzt super Fortschritte und wir hoffen, dass er den Förderschulabschluss schafft und dann wieder zu uns kommen und hier eine Lehre anfangen kann."
An Weihnachten ist die Familie wieder versammelt. "Ich schaue, dass ich jeden Monat was zur Seite lege, damit ich für die Kinder was kaufen kann, sie wollen ja auch was haben." Oma, Opa und die Tante steuern zusätzlich was bei, erzählt die 46-Jährige. Die Großeltern sind ohnehin eine große, auch finanzielle Stütze. Als kürzlich Waschmaschine und Kühlschrank kaputtgegangen sind, haben sie ihrer Tochter das Geld vorgestreckt. Was die Witwe und ihre Kinder auch dringend brauchen, sich absehbar aber selbst nicht leisten können: ein neues Bett für den Sohn, eine Kaffeemaschine. Und Lena? Die 13-Jährige zieht mit der einen Hand den Ärmel des hellgrauen Pullis über die andere Hand. Die Augen füllen sich wieder mit Tränen. Sie zieht sacht die Schultern hoch. "Was Türkisblaues, meine Lieblingsfarbe, fürs Zimmer?" Das Kind ist nicht geübt im Wünschen.
So können Sie spenden: "Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung e.V." Stadtsparkasse München IBAN: DE86 7015 0000 0000 6007 00 BIC: SSKMDEMMXXX