Zwischennutzung:Wiege und Wandel

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Riesig groß und bisher riesig nutzlos: die "Wiege von Starnberg", die der Künstler Andreas Sarow im Auftrag der Firma Ehret und Klein entworfen hat. (Foto: Nila Thiel)

Erst im Frühjahr 2022 soll das magentafarbene Monument von Starnberg, das für die Veränder­ungen in der Stadt steht, eröffnet werden

Von Peter Haacke, Starnberg

Das ganze Bauwerk ist grotesk, und das Drumherum ist es auch. Erst dauert es ein Dreivierteljahr, bis das Landratsamt die "Wiege von Starnberg" Ende November endlich genehmigt: eine gigantische Tribüne in grellem Magenta mit 50 Stufen, 43 Meter lang, elf Meter breit und zehn Meter hoch. Und dann passiert wieder einmal das, wofür die Stadt bekannt ist: nichts. Erst im März oder April 2022, also mit zwölf Monaten Verzögerung, soll die Einweihung des Objekts sein, das als Zwischennutzung auf einem Baugrundstück an der Bahnhofstraße gedacht ist. Gut, vielleicht gibt es dafür gute Gründe: Im Winter lässt sich kaum sicherstellen, dass nicht halb Starnberg beim Besteigen der begehbaren Skulptur auf den Hintern fällt. Wie also kommentiert der Mann, der die Aufsehen erregende Skulptur in Auftrag gab, die Irrungen und Wirrungen? Er finde das gut, sagt Michael Ehret.

Doch kann er das wirklich ernst meinen? Womöglich hilft ein Hausbesuch weiter. Wer die schicke Zentrale von Ehret und Klein im Neubau an der Gautinger Straße in Starnberg betritt, bemerkt sogleich: Hier wird auch unter Pandemiebedingungen geklotzt. Ein Blick auf die Homepage des Bauprojektentwicklers mit knapp hundert Mitarbeitern dokumentiert den Anspruch: Man will "urbane Lebensräume entwickeln" und "Mensch und Immobilie zu Ende denken". Wer einen Blick auf die "Wiege von Starnberg" wirft, könnte daran jedoch seine Zweifel haben. Kaum jemandem hat sich bislang der tiefere Sinn des Bauwerks erschlossen, das seit acht Monaten scheinbar nutzlos hinter einem Metallbauzaun steht.

Aber die Zeiten ändern sich, und Änderung ist auch das zentrale Thema bei Ehret und Klein im städteplanerischen Bereich. "Transformation einer Stadt hat für mich damit zu tun, dass ich Veränderungen sichtbar mache", sagt Ehret, "und eine Veränderung in einer Zwischennutzung sichtbar zu machen, ist das höchste Gut, was wir tun können". Die Wiege als temporäres Bauwerk mit begrenzter Haltbarkeit ist für den Architekten also so etwas wie ein künstlerisches Vehikel, um den Wandel in der Stadt behutsam sichtbar zu machen. Doch nicht in aller Radikalität, sondern in kleinen Schritten. Ehret: "Vielleicht war es daher sogar ganz gut, dass die Wiege jetzt erst mal nicht begehbar war, weil der Raum jetzt ganz anders wahrgenommen wurde. Ich seh' das positiv."

Freilich verfolgt der Projektentwickler auf dem schmucklosen Areal hinter dem Bahndamm, das zuvor parkenden Autos und einer Pizzabude vorbehalten war, höhere Ziele. Geplant ist ein Mehrzweckbau - Projektname: AHA - mit Läden, Büros, Gewerbeflächen, Wohnungen. 2023 soll das Vorhaben starten, das neue Gebäude soll ein "Stadtbaustein werden, der auch viele Themen für die Öffentlichkeit hat". Dazu gehört etwa eine Treppe ins erste Obergeschoss des geplanten Komplexes zu einem "Marktplatz, vom dem man aus auf den See blicken kann". Die "Wiege von Starnberg" dürfte als Aussichtsplattform etwa die gleiche Höhe haben.

Das Monument sollte alles bislang in Starnberg Dagewesene in den Schatten stellen: Im Rathaus war man entzückt, vorfreudig fieberte man der Eröffnung im April entgegen. Doch dann kam das Landratsamt - und spielte nicht mit: Betreten verboten, das pinke Monument blieb ein umzäunter Schwarzbau. Und noch immer ist die Wiege gesperrt - trotz der Ende November erteilten Baugenehmigung. Ist das umstrittenen Werk nun also ein gescheitertes Experiment, ein provokanter PR-Gag oder schlicht Dilettantismus?

Vorerst bleibt es erst mal bei Kunst hinter Gittern. Erst im März oder April 2022 soll Eröffnung sein, ein kleines Fest mit Kulinarik, Begegnung, Spiel. "Es wird was für die Bürger sein", sagt Ehret. Was danach kommt, ist noch nicht ganz klar. Derzeit bastele man noch am Konzept, am besten in Zusammenarbeit mit Stadt, Wirtschaftsförderung und Kulturschaffenden. Diverse Anfragen lägen vor, Künstler, Theater- und Musikgruppen hätten Interesse bekundet. Darüberhinaus sind die Vorstellungen eher vage: Firmen, Produzenten und Gewerbetreibende könnten die "Wiege" als Ausstellungs-, Werbe- oder Verkaufsplattform nutzen. Auch Kulturveranstaltungen oder Platzkonzerte am Mittag seien denkbar. "Ich denke da breit", sagt Ehret, doch "was dann da genau stattfindet, weiß ich noch nicht".

Zumal die strengen Auflagen des Landratsamts (siehe Kasten) nur beschränkte Möglichkeiten zulassen. Abgesehen von Lärm- und Lichtemissionen dürfte die Sicherung des Areals das größte Problem darstellen. Ginge es nach Ehret, würde er am liebsten auf Zäune verzichten. Ein Wachdienst wäre die teurere Lösung, Videoüberwachung unzulässig. Doch wie ist zu gewährleisten, dass außerhalb genehmigter Zeiten niemand unbefugt auf die Tribüne steigt oder sogar abstürzt? Vor allem Jugendliche könnten sich in lauen Sommernächten magisch angezogen fühlen von der "Wiege" mit Blick auf Stadt, Alpen und See. "Da lassen wir uns was einfallen", sagt Ehret. "Ich weiß es aber auch noch nicht, wir diskutieren das gerade."

Im Rückblick war es für Diplom-Bauingenieur und Geschäftsführer Ehret nicht absehbar, dass das Landratsamt aus der temporären Skulptur ein vollwertiges Bauwerk macht. "Die wussten anfangs selbst nicht, was die Wiege eigentlich ist." Zumal es keine Betriebsbeschreibung gab und zunächst unbekannt war, was Ehret und Klein mit der spektakulären Skulptur des Pforzheimer Künstlers Andreas Sarow eigentlich anfangen wollten. Nun aber ist das Kunstwerk im juristischen Sinn eine Versammlungsstätte, und Ehret erlebt einen "spannenden Prozess": Die Erfahrungen könnten bei späteren Projekten hilfreich sein. Angesprochen auf die monatelange Verzögerung entgegnet er: "Für mich ist das überhaupt nicht in die Hose gegangen, mich stört die späte Baugenehmigung nicht." Dass alles solange gedauert hat, "dafür kann ich nichts".

Sogar fürs Landratsamt findet er lobende Worte: "Die Behörden haben einen guten Job gemacht"; nur ein bisschen schneller hätte es vielleicht gehen können. Aber die Mitarbeiter hätten ihr Bestes getan und sich bemüht, "um uns lösungsorientiert eine Genehmigung zu erteilen". Das sei doch jetzt das Wichtigste. Nur einen Fehler räumt Ehret ein: "Es war ja alles besprochen - allerdings nur mit der Stadt. Wir hätten früher auch mit dem Landratsamt reden müssen und haben uns zu Beginn zu sehr auf die Stadt verlassen."

Immerhin, einen Zweck hat die "Wiege von Starnberg" schon jetzt erfüllt: Man spricht über sie. Werbestrategisch ist das provokante Kunstwerk mit Kosten "im mittleren fünfstelligen Bereich" für Ehret und Klein ein Volltreffer. Die Skulptur soll den ganzen Sommer stehen bleiben, vielleicht bis Herbst, und die Chance bieten, Veränderungen beim identitätsstiftenden Blick auf die Heimatstadt schrittweise zu erleben. Wie gehaltvoll das Programm sein wird, mit dem die "neue und unverbrauchte Wiege" (Ehret) im zweiten Jahr ihrer Existenz bespielt und gesichert werden kann, ist eine andere Frage. Das Tüv-geprüfte Bauwerk ist nach öffentlichem Recht und DIN-Vorschriften gebaut. Hinsichtlich der Sicherungspflicht sagt Ehret: "Ich seh' das Problem gar nicht." Soll heißen: Betreten auf eigene Gefahr. Auch der Kirchplatz hat Ecken und Kanten.

Ob die Starnberger das Kunstwerk annehmen, das aus Perspektive von Auftraggeber und Künstler als Experiment gedacht war? Die Meinungen darüber sind und bleiben zwiespältig. Ehret und Klein wollen sich weiterhin "wahnsinnig intensiv" mit Zwischennutzungsphasen und Kunst am Bau befassen. "Ja, ich würde es wieder machen", sagt Ehret. Mit großer Innovationsfreude probiere man gern Neues aus, durch kontroverse Wahrnehmungen werde auch anders diskutiert. Starnberg sei zwar keine Stadt, durch die der Goldstaub weht, habe aber großes Potenzial. Dazu wollen auch Ehret und Klein ihren Beitrag leisten. Und dann kommt der Satz, der irgendwie auch auf die Wiege zutrifft: "Wir wollen nicht verstanden werden", sagt Ehret, "wir wollen verstehen".

© SZ vom 31.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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