Holocaust-Überlebender in Starnberg:Gegen das Vergessen ankämpfen

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Abba Naor spricht vor Gymnasiasten über Demütigungen, Hunger und Leid in den KZs und auf dem Todesmarsch. Und er erklärt, warum er seine Lebensfreude nicht verloren hat.

Von Charlotte Alt, Starnberg

"Ich komme, um euch zu erzählen. Aber ich komme auch, um euch vor falschen Propheten zu warnen", beginnt Abba Naor seinen Vortrag im Starnberger Gymnasium. Als Jugendlicher hat der heute 91-Jährige den Holocaust überlebt. Seine Lebensgeschichte erzählt er jetzt vor allem in Schulen, um gegen das Vergessen anzukämpfen. In Starnberg war er schon einmal: Mit mehreren Tausend Gefangenen wurde er im April 1945 von der SS von Dachau über Starnberg nach Bad Tölz getrieben. Im Gegensatz zu vielen anderen hat Abba Naor den Todesmarsch überlebt. Und er setzt sich heute dafür ein, dass so etwas nie wieder passiert.

Abba Naor ist einer der letzten Holocaust-Zeitzeugen, die regelmäßig in Deutschland Vorträge halten. Dass er immer noch mit den grauenhaften Erlebnissen zu kämpfen hat, verschweigt er nicht. Hier zeigt er den Schüler sein Holzkästchen mit seinen Medikamenten. (Foto: Arlet Ulfers)

Mit leiser Stimme erzählt Naor von seinem Leben. Er ist geübt, es ist nicht das erste Mal, dass er diesen Vortrag hält. Und auch die Jugendlichen haben schon öfter von solchen Schicksalen gehört. Doch die Worte des Mannes bewegen die Schüler des elften Jahrgangs auf eine ganz neue Art, denn so nah kommen sie wohl selten mit der Vergangenheit in Berührung. Abba Noar ist 1928 als zweiter von drei Brüdern in Kaunas in Litauen geboren. Damals lebten 60 000 jüdische Kinder in Litauen, den Holocaust überlebten nur 350. "Einer davon bin ich." Nachdem 1941 die Deutschen Kaunas besetzten, wurde er in ein Ghetto gesperrt. Von dort kam er in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, das Arbeitslager bei Utting am Ammersee und zuletzt das Außenlager Kaufering. Mit 17 Jahren wurde er nach dem achttägigen Todesmarsch befreit. Sein großer Bruder wurde noch in Kaunas erschossen, seine Mutter und sein kleinerer Bruder in Auschwitz vergast. Seinen Vater fand er erst nach Ende des Kriegs in München wieder. "Ich brauche mich nicht zu erinnern. Ich habe ja nie vergessen", sagt Abba Naor.

Nach seinem Vortrag kommt Abba Naor mit den Schülern der elften Jahrgangsstufe des Starnberger Gymnasiums ins Gespräch. (Foto: Arlet Ulfers)

Er erzählt von Demütigungen, Hunger, Zwangsarbeit und den unzähligen Leichen, aber auch von Freundschaften, schönen Kindheitserinnerungen in Litauen und der Hilfe, die sie von Deutschen manchmal erhielten. Er berichtet, wie er während des Todesmarsches vor Hunger Gras gegessen habe, oder wie er in Dachau gen Himmel schaute und Gott anklagend fragte: "Hey! Warum?" Und trotzdem versprüht der 91-Jährige eine ansteckende Lebensfreude.

Eine Jugendliche fragt ihn nach dem Vortrag, wie er bei all dem niemals seine Kraft zum Weiterleben verloren habe. "Ich wollte leben, jeden Tag, und wenn ich meine Familie jetzt sehe, hat sich das auch gelohnt", sagt er. Zwar helfen ihm heute Medikamente durch den Tag, und mehr als drei Stunden kann er nachts nicht schlafen. Ans Aufgeben habe er aber nie gedacht, nicht in den Lagern und auch später nicht. "So lange ich lebe, will ich leben."

Auch beschäftigt es die Schüler, ob man sich als Deutscher heute für die Vergangenheit schuldig fühlen sollte. "Wären nicht so viele Mitläufer gewesen, wäre es nicht möglich gewesen, so viele Unschuldige umzubringen", sagt Naor deutlich. Doch klagt er Mitläufer aus dieser Zeit für ihre Beihilfe nicht an. Und bei den Jugendlichen von heute sieht er keinerlei Schuld. Ihre Aufgabe sei es jedoch, gegen das Vergessen anzukämpfen, damit so etwas nie wieder passiert. "Ich habe den Glauben an den Menschen noch nicht verloren", sagt er hoffnungsvoll. Man müsse weg vom Egoismus und sich auf die Menschlichkeit konzentrieren: "Mensch ist Mensch."

© SZ vom 03.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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