Literatur:Der "Ossi" in der Promi-Stadt

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Paul Puppe steht mit seinen fertig gedruckten Lebenserinnerungen auf seinem Balkon in Ambach. (Foto: Nila Thiel)

Viele Starnberger erinnern sich noch an den umtriebigen Bahnhofsbuchhändler Paul Puppe. Jetzt veröffentlicht er seine Autobiographie: Eine Lebensreise von Ost nach West in Zeiten des Kalten Krieges.

Von Sabine Bader, Starnberg

Was braucht ein gutes Buch? Einen Spannungsbogen. Noch besser ist es, wenn dieser nicht künstlich erzeugt werden muss, sondern sich aus der Geschichte heraus ergibt - praktisch automatisch. Das ist bei Paul Puppe der Fall. Den Starnbergern ist sein Name ein Begriff. Denn Paul Puppe war der langjährige Bahnhofsbuchhändler der Stadt. Er hat jetzt unter dem Titel "Der Bahnhofsbuchhändler - Meine Lebensreise von Ost nach West" seine Autobiografie veröffentlicht.

Sie startet recht bescheiden 1942 in Ammendorf bei Halle an der Saale. Es herrscht Krieg. Der kleine Paul Puppe hat Rachitis und immer zu wenig zu essen. "Der Hunger begleitet mich durch meine gesamte Kindheit", schreibt er. Schon darum ist er ein dünnes Kind. Während seine Schwester in der Schule fleißig lernt, besteht Pauls Alltag hauptsächlich im Organisieren wichtiger Güter wie beispielsweise Kohle. Nach der achten Klasse tritt er 1956 eine Lehre als Maurer auf dem Bau an. Das bedeutet "Fronarbeit", ein Leben als "Lastenesel". Die Eltern gehen nach der Arbeit noch zum "Stroppeln". Das heißt: Sie suchen die abgeernteten Felder nach Essbarem ab - nach Kartoffeln oder Rüben.

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Für Puppe steht eines fest: Maurer will er nicht bleiben. Durch sein Engagement für das Deutsche Rote Kreuz und zahlreiche freiwillige Lehrgänge erhält er das Angebot zur Umschulung als Krankenpfleger. Damals für einen jungen Mann in der DDR ein ungewöhnlicher Berufswunsch. Und es begegnet ihm dabei die große Liebe - seine spätere Frau Helga, mit der er heute in Ambach am Ostufer des Starnberger Sees lebt.

"Uns war bewusst, dass wir im größten Zuchthaus der Welt lebten."

Doch der Weg dorthin ist noch weit. Denn noch sind die Puppes in der Deutschen Demokratischen Republik und setzen große Hoffnungen in die Zukunft. Der Freiheitsdrang der jungen Leute ist groß. Sie empfinden den tristen DDR-Alltag als beengend und leblos. Sie wollen raus, weg, hegen Fluchtpläne. Doch dann wird die Mauer gebaut - und ihre Hoffnungen fallen in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Puppe schreibt: "Uns war bewusst, dass wir im größten Zuchthaus der Welt lebten."

In der Volksbuchhandlung Halle präsentiert Paul Puppe seine Bücher in einer Verkaufsausstellung. (Foto: Berliner Buchverlagsgesellschaft mbH)

Durch einen Zufall wird er Lagerverwalter bei der Nationalen Volksarmee (NVA) und muss nicht zum Wehrdienst. Das Paar erhält eine Wohnung zugewiesen, Sohn Jens wird geboren, die Hoffnung kehrt zurück. Doch 1968 marschieren die Truppen des Warschauers Pakts in die Tschechoslowakei ein, der Prager Frühling wird niedergeschlagen. Puppe fühlt sich mitschuldig: Als Lagerverwalter der NVA ist er für die Versorgung der Truppe mit zuständig. "Ich war unfreiwillig zum Mittäter geworden." Er gibt die Stelle auf und lässt sich im Abendstudium zum Buchhändler ausbilden. Puppe muss richtig pauken. Doch es lohnt sich. Fortan arbeitet er im Volksbuchhandel, lernt die Schriftstellerelite der DDR kennen: Erich Loest, Christa Wolf, Erik Neutsch. Er wird Verlagsbeauftragter - und damit das Bindeglied zwischen Verlag und Buchhandel mit eigenem Dienstwagen, einem bronzefarbenen Wartburg. "Meine Bonzen-Karre", wie Puppe seinen Wagen später nennen wird.

Dass das Verlagswesen der DDR viel mit Politik zu tun hat, zeigt ein einfaches Beispiel: Anstatt Duden zu drucken wird das Handbuch der Sowjetliteratur in viel zu hoher Auflage produziert. Während die Buchhändler Puppe den Duden aus den Händen reißen, ist das Handbuch der Sowjetliteratur ein echter Ladenhüter. Puppe ist sauer und beschwert sich bei seinem Vorgesetzen: "Wäre das Papier für den Duden verwendet worden, wäre es klüger gewesen." Die Antwort des Chefs kommt prompt: "Herr Puppe, wenn der Duden nicht lieferbar ist, haben wir Ärger. Ist das Handbuch der Sowjetliteratur nicht lieferbar, wackelt mein Stuhl." Dieser Satz sagt alles über das Verlagswesen im Arbeiter- und Bauernstaat. Übrigens: Der DDR-Duden war trotz seiner Beliebtheit auch sozialistisch. Begriffe wie "Meinungsfreiheit", "Menschenrecht", "Pressefreiheit", "Weltreise" und "Reisefreiheit" fehlten.

In einer schriftlichen Erklärung teilt Puppe der Staatsführung mit, dass er nicht mehr in die DDR zurückkehren wird. (Foto: Berliner Buchverlagsgesellschaft mbH)

1977 passiert dann etwas schier Unfassbares: Puppe erhält als Verlagsvertreter den Auftrag, dienstlich in den Westen zu reisen. Dabei ist er weder Genosse noch SED-Mitglied. Der Westen ist für ihn eine andere Welt - eine Welt, die ihm fremd ist, ihn anfangs überfordert. Und eine Welt, nach der er sich zugleich sehnt. Was für ihn entscheidend ist: Im Westen gibt es alles, was man unter dem Begriff "Freiheit" subsumieren kann. Die ersten Male kehrt Puppe von seinen mehrwöchigen Reisen als Verlagsvertreter ganz normal in die DDR zurück. Er will nicht auffallen. Dennoch wird er bei seinen Westreisen beschattet. Der Staat misstraut allen und jedem.

Puppe lernt namhafte Westliteraten wie Golo Mann und Siegfried Lenz kennen

Puppe kann und will es nicht mehr aushalten in diesem Staat. Im September 1977 fasst er den Entschluss, von seiner nächsten Reise nicht in die DDR zurückzukehren. Erst am offiziellen Rückreisetag informiert er seine Frau am Telefon über den Plan. Beide weinen, sind verzweifelt. Es beginnt eine lange Zeit der Unsicherheit, der Briefwechsel mit Behörden, der Rückschläge. Puppe setzt alles daran, Frau und Kind möglichst schnell zu sich in den Westen zu holen. Denn ihm ist bewusst, dass er nicht nur seine Familie im Stich lässt, sondern diese von jetzt an auch unzähligen Schikanen und Verhören aussetzt. Er sucht sich einen Job in einem Verlag und lernt im Zuge dessen namhafte Westliteraten kennen: Golo Mann, Siegfried Lenz, Günter Kunert und Reiner Kunze.

1989 nimmt Puppe diese Protestplakate an der Bundesstraße von Naumburg nach Zeitz auf. (Foto: Nila Thiel)

Weil er in Sachen Familienzusammenführung nichts unversucht lässt, wendet er sich eines Tages auch an das Büro des damaligen Außenministers Hans Dietrich Genscher, der wie er aus Halle stammt. Genschers Büro hilft schließlich weiter, der FDP-Politiker ist für Puppe fortan ein Held: Die Familie ist endlich wieder vereint und fasst in Bayern Fuß.

Puppe ist stolz auf seine neuen Verkaufsräume im historischen Starnberger Bahnhofsgebäude am See. (Foto: Berliner Buchverlagsgesellschaft mbH)

Bis die Puppes schließlich in Starnberg landen, gehen noch Jahre ins Land. Im Jahr 1992 erhält Paul Puppe die Möglichkeit, die Bahnhofsbuchhandlung in der Kreisstadt zu übernehmen. Sein Laden wird schnell zur Institution, die aus der Stadt und aus dem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Und Puppe ist sichtlich stolz darauf, dass er, "der Ossi", wie er sich selbst nennt, es geschafft hat. Bei ihm geben sich nicht nur Promis die Klinke in die Hand. Als Buchhändler mischt er auch in der Starnberger Kulturszene mit, veranstaltet neben Themenabenden und Lesungen auch Jazz- und Swingabende. Umtriebig bleibt Puppe bis zu seinem letzten Arbeitstag. 2007 zieht er sich aus dem Berufsleben zurück.

Heute wohnt er mit seiner Frau Helga und Katze Tonky in einer barrierefreien Wohnung in Ambach am Ostufer des Starnberger Sees. Seine Lebenserinnerungen hat er in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Starnberger SZ-Redakteur und Kenner der Kulturszene im Landkreis, Wolfgang Prochaska, niedergeschrieben.

Paul Puppe (2023): "Der Bahnhofsbuchhändler - meine Lebensreise von Ost nach West". Erschienen im Verlag "Bild und Heimat".

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