Freundschaft und Schicksalsschläge:Das Leben nach dem Mädchenheim

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Wiedersehen in Andechs (von links): die frühere Betreuerin Ellen Schubert, Sabine Riedl und Manuela Müller mit ihrem Sohn Fabian. (Foto: Arlet Ulfers)

Vor 40 Jahren waren Manuela Müller und Sabine Riedl in der therapeutischen Einrichtung in Gauting. Dort haben sie Halt gefunden und in der pädagogischen Betreuerin Ellen Schubert eine Freundin fürs Leben.

Von Christian Deussing, Andechs

Beide wohnen in alten Häusern, Tür an Tür am Waldrand in Andechs. Sie sitzen im Garten, auf dem Kaffeetisch liegen Fotos aus einer Zeit, in der sich die Frauen kennengelernt haben; das war vor 40 Jahren im Gautinger Caritas-Mädchenheim. Seit acht Jahren sind sie nun Nachbarinnen. Manuela Müller und Sabine Riedl waren mit 14 über das Jugendamt in die therapeutische Einrichtung gekommen, die vernachlässigte Mädchen aus prekären Verhältnissen betreut. Dabei geht es um Zuwendung, seelische Hilfe, Orientierung, Regeln und Pflichten, die die Mädchen psychisch stabilisieren sollen. Halt gab ihnen vor allem Ellen Schubert: Sie war vor 40 Jahren ihre erste pädagogische Betreuerin. Nun blättert sie mit ihren früheren Schützlingen durch ein Album mit vielen Erinnerungen an damals. Schubert ist vor Kurzem in Rente gegangen, den Kontakt zu den Mädchen aus dem Heim hat sie aber nie verloren. Die drei Frauen sind mittlerweile befreundet.

"Ja, wir sind damals auch mal für einige Stunden aus dem Heim abgehauen, weil wir in eine andere Abteilung kommen sollten", erzählt Manuela Müller freimütig. Doch sie seien sei vor allem wegen der Betreuerin wieder zurückgekehrt. Zu ihr hatten die beiden Jugendlichen Vertrauen gefasst. "Sie war offen und ehrlich zu uns, konsequent und geradlinig, sie hatte ihre Regeln." Zwei Jahre verbrachten die Mädchen in der Einrichtung.

Wertschätzung und Mitspracherecht seien wichtig , sagt die frühere Betreuerin

Wichtig sei es, den Mädchen nach ihren oft schlimmen Erfahrungen Wertschätzung zu vermitteln, demokratisch und nicht von oben herab zu handeln und ihnen ein Mitspracherecht zu geben, erklärt Ellen Schubert. Die 66-jährige Rheinländerin, die später auch als Bewegungstherapeutin tätig war, gehörte zum ersten Team der Gautinger Jugendhilfeeinrichtung, die 1982 als Caritas-Mädchenheim gegründet wurde. Beworben hatten sich seinerzeit 150 Kandidaten, zehn sind ausgewählt worden, darunter Ellen Schubert, die seitdem mehr als tausend Mädchen im Alter ab 14 Jahren in dem Heim betreut hat. Die pädagogische Betreuerin habe den Mädchen Mut gemacht, an sich zu glauben, um festen Boden unter sich zu verspüren, wie sie erzählen.

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Sabine Riedl mit ihrer damaligen Betreuerin Ellen Schubert im Caritas-Heim. (Foto: Arlet Ulfers)

Von dieser Stabilisierung profitieren noch heute Manuela Müller und Sabine Riedl, die im Caritas-Heim auch ihre Firmung erhalten hat. Sie treffen sich regelmäßig mit der einstigen Betreuerin oder telefonieren mit ihr. Manuela hatte im Gautinger Heim ihre Hauswirtschaftslehre gemacht und bekam dort später in der Großküche einen Job mit Unterkunft. Auch dafür sei sie dankbar, weil sie zuvor auf dem freien Markt nicht Fuß gefasst habe, wie sich die heute 54-Jährige erinnert. Seit Jahren lebt sie nun schon neben ihrer früheren Mitbewohnerin aus dem Gautinger Heim. Nach der Scheidung musste Manuela ihre beiden Söhne allein aufziehen. Der jüngere ist mittlerweile 26 Jahre alt, er heißt Fabian und besucht an diesem Nachmittag seine Mutter. Sie haben ein sehr gutes Verhältnis.

Nichts hat die beiden Frauen mehr aus der Bahn geworfen

Die gebürtige Fränkin arbeitete früher in einem Münchner Discounter und 15 Jahre lang bei einer Zeitarbeitsfirma, bevor sie wegen der Corona-Krise die Kündigung erhielt. Auch das warf sie aber nicht aus der Bahn, denn sie gibt nicht so leicht auf. Inzwischen arbeitet die 54-Jährige in einer Herrschinger Drogerie.

Ein altes Foto zeigt Manuela Müller als etwa 14-jähriges Mädchen mit einem Pudel im Arm, aufgenommen wurde es im Gautinger Heim. Auf einem anderen Bild sitzt Sabine Riedl im gleichen Alter neben ihrer Betreuerin Ellen Schubert auf einer Bank. Riedl, die aus München stammt, hatte im Büro und später in einem Kiosk gearbeitet. Seit 23 Jahren muss sie sehr früh aufstehen, denn sie fährt in Hechendorf und in einem Bereich von Andechs nachts Zeitungen aus. "Ich mache das sehr gerne", erzählt sie. Sabine Riedl hat drei Hunde und seit 18 Jahren ein Pferd namens "Jever". Es steht meist in einem Stall in Seefeld, manchmal auch im Garten bei ihrem Haus in Andechs. Regelmäßig erhält sie Besuch von einer Frau, die zusammen mit ihren Zwillingen aus der Ukraine geflüchtet ist. Den Kontakt hatte eine Tierärztin geknüpft.

Manuela Müller im Alter von etwa 14 Jahren. (Foto: Arlet Ulfers)

Es freue sie, wie die Kinder mit den Hunden toben und "Jever" streicheln, erzählt Sabine Riedl, die darüber selbst dankbar ist. Sie hatte einige Schicksalsschläge zu verkraften: Vor 17 Jahren starb ihre Mutter, danach nahm sich der Vater das Leben, und vor zwei Jahren starb ihr Bruder an Krebs. Als sie davon erzählt, kommen der 54-jährigen Frau die Tränen, sie wird aber sofort von Manuela und Ellen Schubert getröstet, die ihr schon vor 40 Jahren im Mädchenheim viel Halt gegeben hatten.

Manuela Müller und Sabine Riedl nahmen auch an Ehemaligen-Treffen teil, die Schubert jedes Jahr organisiert hat. Diese Begegnungen waren für beide äußerst wichtig. Für ihre Betreuerin der ersten Stunde hielt ein langjähriger Kollege beim Abschied in den Ruhestand vor einigen Monaten eine Laudatio. Er lobte sie für ihre "uneingeschränkte Hilfsbereitschaft und Glaubwürdigkeit in ihrem nie nachlassenden Engagement". Das würden die beiden Frauen aus Andechs noch am Kaffeetisch sofort unterschreiben.

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