Der Drache trieb Sachen, die Drachen halt so machen. Das Ungeheuer grollte bei Gewittern vor sich hin und entführte ansonsten kleine Mädchen und schöne Frauen. Längst ginge das nebulöse Biest, das noch durch die Erzählungen der Einheimischen geistert, in diesem bulgarischen Bergdorf aber leer aus. Denn das abgelegene Pirin ist dem Untergang geweiht. Zu Zeiten des Kommunismus hatte der Ort noch etwa 2000 Einwohner, viele verdingten sich in Minen, die mittlerweile geschlossen sind. Heute leben nur noch knapp einhundert vorwiegend alte Menschen dort. Es gibt weder Frauen noch Kinder, weder ein Café noch ein vernünftiges Lebensmittelgeschäft, weder einen Bus noch ärztliche Versorgung, dafür aber fast täglich Begräbnisse. Einzig die Geschichte vom Drachen der Ginchos hat sich gut gehalten. Nur, dass sie zugleich eine Art dunkle Erklärung für den Niedergang ist.
Die bulgarische Regisseurin Eliza Petkova hat Pirin eine sanfte Liebeserklärung gewidmet: "Bürgermeister, Schäfer, Witwe, Drache" ist einer dieser fast scheuen Fünfseen-Festivalfilme, die ganz unspektakulär aufregend sind. Denn die Dokumentation ist in allen Aspekten stimmig. Der Titel, der nur die Hauptprotagonisten auflistet, passt genauso wie die nie gekünstelten Einstellungen von Kamerafrau Constanze Schmitt. Sie setzt auf einfache Bilder, außerdem auf wie gemalte, mystische Aufnahmen mit Nebel.
Der Bürgermeister misst seinen Bürgern den Blutdruck
Eine der schönsten Szenen gelingt Schmitt bei einem Fest: Neun alte Herren hocken im Hintergrund regungslos auf einer grünen Bank, während im Vordergrund Frauen mit gekerbten Gesichtern in bunten Trachten tanzen und singen. Und weil die Bewohner vor der Kamera ganz selbstverständlich agieren, Petkova alle Dorfgeräusche wie die Glöckchen der Schafe und Ziegen, das Summen der Bienen, Grillenzirpen und Hundegebell einfängt, schwingt ihr Porträt ganz im Rhythmus dieses schlichten und sehr kargen Berglebens.
Die Filmemacherin zeigt die Menschen oft beim Rauchen, bei der Arbeit, beim Fernsehschauen, Essen und Telefonieren. Immerhin, Handys gibt es in Pirin. Der Bürgermeister besitzt eines. Er hat eine schöne Frau auf Facebook kennengelernt, bald wollen die zwei sich treffen. Derweil tippt er einfingrig auf der Schreibmaschine eine Vollmacht, misst seinen Bürgern den Blutdruck ("161 zu 91"), stemmt Gewichte und überlegt mit einem Freund, wie Gäste angelockt werden könnten. Ein Touristen-Pavillon an der warmen Quelle wäre schön, sagt sein Gesprächspartner, das Wasser habe ja "einzigartige Qualitäten". Und dann stapfen die beiden über eine marode Brücke davon.
Die Menschen vertrauen der Regisseurin, sie kennen sie bereits
Wie Petkova nach der Abendvorstellung im Kino Gauting sagt, sei sie auf einer Wanderung durch Zufall in den Ort mit den vielen bröckelnden und verfallenen Häusern geraten. Sie habe sich in Pirin verliebt und komme seit einem Jahrzehnt mindestens einmal im Jahr in die Gegend. Vor sechs Jahren dreht sie dort ihren ersten Spielfilm "Zhaleika" und lebte mit ihrem Team im Dorf. Deshalb vertrauten ihr die Menschen, als sie wiederkam für ihre Doku.
Sie versuche nun, ein Festival in Pirin auf die Beine zu stellen, denn "das Dorf braucht Liebhaber", wie sie sagt. Die vielen Schafe und Ziegen, die im Film noch vorkommen, gebe es inzwischen nicht mehr. Die beiden Schäfer starben. Weil sich keine Nachfolger fanden, schlachteten die Bewohner viele Tiere. Und, ach ja: Der Bürgermeister hat inzwischen eine andere Freundin. Die Chance, dass im Dorf des Drachen doch noch eine Familie gegründet wird, stehen offenbar gut. Denn im Gegensatz zur Facebook-Bekanntschaft stammt die neue Frau aus Pirin.