Drittes Reich:Das Grauen bekommt Namen

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"Den Opfern zugewandt": Kreisarchivarin Friedrike Hellerer in ihrer Euthanasie-Ausstellung im Starnberger Landratsamt. (Foto: Nila Thiel)

Die Nazis haben im Rahmen des Euthanasie-Programms auch 50 Menschen aus dem Raum Starnberg umgebracht. Kreisarchivarin Friedrike Hellerer hat exemplarisch nun die Biografien von zehn dokumentierten Opfern recherchiert.

Von Patrizia Steipe, Starnberg

Die zehn Biografien auf den Ausstellungstafeln im Starnberger Landratsamt stehen stellvertretend für die 50 dokumentierten Opfer im Landkreis, die im Dritten Reich umgebracht wurden, weil sie behindert oder krank waren. Und sie stehen auch für die 300 als "erbkrank" stigmatisierten Männer und Frauen, die zwangssterilisiert oder misshandelt wurden.

"Nachdem ich mich in meiner Dissertation mit den NS-Tätern beschäftigt habe, habe ich mich nun den Opfern zugewandt", erklärte Kreisarchivarin Friedrike Hellerer bei der Eröffnung der Wanderausstellung "Euthanasie im Landkreis Starnberg".

Hellerer möchte der anonymen Zahl an Betroffenen Namen und Gesichter geben. Auf den Tafeln sieht man Fotos, Briefe und Lebensläufe, man sieht aber auch eine "Anstaltsordnung", die den "Pfleglingen" bei Fehlverhalten mit drakonischen Strafen wie "Herabsetzung der Kost" oder "vorübergehender Absonderung" droht.

Max Michael Huber aus Starnberg ist eines der jungen Nazi-Opfer, die im Rahmen des Euthanasie-Programms umgebracht wurden. (Foto: Nila Thiel)

Vier Jahre lang war Hellerer mit den Recherchen für die Ausstellung beschäftigt. Unzählige Archive, Gedenkstätten, Pflegeeinrichtungen, Einwohnermeldebehörden und Pfarrämter in ganz Deutschland hat sie besucht. Die Akten der Opfer aus den ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten wären dezentral gelagert und oft nicht mehr auffindbar gewesen, so Hellerer. Dazu kam, dass viele Angehörige nicht wollten, dass an ihre behinderten Verwandten erinnert wird.

Auf seinem Krankenblatt stand: "Zu nichts mehr zu brauchen"

Auf den Infotafeln erfahren die Besucher zum Beispiel etwas von Georg Birk, der 1931 als Laienbruder Magnus in das Benediktinerstift St. Bonifaz eingetreten war. Im Kloster Andechs wurde er als "musterhaft braver, fleißiger Mensch" gelobt. Wegen "schwerer Gemütsdepressionen" kam er in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Auf seinem Krankenblatt stand: "Zu nichts mehr zu brauchen." Er soll angeblich an einem "Nackenfurunkel" gestorben sein, so Hellerer.

Bei Georg Bichler, der seit einem Unfall ein Pflegefall war, lautete die Todesursache: "Lungentuberkulose". Maria Mader aus Herrsching wurde nach einer "Kopfgrippe" als "nicht bildungsfähig" abqualifiziert und in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz getötet. Dort starben auch Johann Bader, der gehörlose "Pepi" Schwarz, der Kunstmaler und Geigenlehrer Otto Vollmann, dem "Paralyse" diagnostiziert wurde und die als "arbeitsscheu" diskreditierte Katharina Ippenberger.

Viele Betroffene aus dem Landkreis wurden in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz umgebracht. (Foto: Karl Schuhmann)

Sterben mussten auch Friedrich Schuster aus Etterschlag, der "klar im Kopf" gewesen sei, aber nur "schwer sprechen" konnte und der "geistesschwache" und "krüppelhafte" Max Michael Huber aus Starnberg. Und dann war da noch der 22-jährige Maximilian Erhardt, dem nach der Diagnose "mittlerer Schwachsinn" die Zwangssterilisation angekündigt wurde. Aus Verzweiflung habe er sich vor die Bahn geworfen, sagte Hellerer.

Ein Werk über Rassenhygiene nennt den Herrschinger Fritz Lenz als Co-Autor

1933 wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erlassen, Wissenschaftler hatten jedoch schon Jahrzehnte zuvor darüber diskutiert, ob die "Reinheit der Rasse" durch eine Art "Zucht" erhalten werden könne. Hellerer zitierte einen Text des seit 1919 in Herrsching wohnenden Mediziners Alfred Ploetz aus dem Jahre 1895: "Die Zeugung wird nicht irgendeinem Zufall, einer angeheiterten Stunde überlassen, sondern geregelt nach den Grundsätzen, die die Wissenschaft aufgestellt hat (...). Stellt es sich heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Ärzte-Collegium ein sanfter Tod bereitet (...). Die Eltern, erzogen in der Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassen sich nicht rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugnis über Fortpflanzungsbefähigung erlaubt ist." Und in einem Werk über Rassenhygiene und Zwangssterilisation, das den Herrschinger Fritz Lenz als Co-Autor nennt, stand: "...dass die Fortpflanzung von Geisteskranken, schweren Psychopathen, Säufern, Schwindsüchtigen, Tauben, Blinden, Zuckerkranken usw. ganz überwiegend Unheil bringt".

Schloss Hartheim gehörte zu den Tötungsanstalten der Nazis. (Foto: Nila Thiel)

Seit Mitte der 1930er Jahre galt in den staatlichen Heil- und Pflegeanstalten der Grundsatz "möglichst wenig behandeln, möglichst viele sterben lassen", so Hellerer. Zwischen 1940 und 1941 brachte die Gekrat (gemeinnützige Krankentransport GmbH) dafür Patienten in Tötungsanstalten. Zuvor hatte ein Arzt nach Aktenlage über deren Schicksal entschieden. Danach ging die Euthanasie in den Heil- und Pflegeanstalten weiter. "Der fielen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges circa 300 000 Menschen zum Opfer", sagte Hellerer. Patienten wurden zu Tode gespritzt, sie verhungerten qualvoll oder starben wegen mangelnder Pflege und Versorgung. Die Hinterbliebenen bekamen stereotype Mitteilungen, die fast immer gleich lauteten und von unerwarteten Todesfällen berichteten.

Die Euthanasie-Ausstellung ist vor dem Sitzungssaal des Landratsamts aufgebaut. Sie wandert dann in Schulen oder Rathäuser.

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