Porträt:Voll Stoff

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Vom Schnittraum ins Rampenlicht: Viola Pröttel ist mit der Liebe zum Film aufgewachsen. (Foto: Jörg Reuther/FSFF)

Viola Pröttels Großvater galt als TV-Legende. Beharrlich schneidet sich die 24-Jährige aus Berg nun ihren eigenen Weg durch die Filmwelt. Wie weit wird sie kommen? Zu Besuch beim Heimspiel: dem Fünfseen-Filmfestival.

Von Viktoria Spinrad, Berg/Gauting

Graue Fassaden, rauchende Schlote, eine Eiskunstläuferin dreht sich im Kreis, das Chemnitz der DDR. Schnitt. Junge Eiskunstläuferinnen, wie sie heute in Reih und Glied ihre Bahnen drehen. Schnitt. Ein Zug rattert durch den Bahnhof, dahinter der riesige Schlot, auf den Jugendliche mit ihrem Camcorder zoomen. Schnitt. Ein Radio-DJ mit langen Haaren und weißem Unterhemd legt im Schummerlicht seines Wohnzimmers eine Kassette ein und greift zum Mikro. Schnitt. Die Tattoonadel rattert, eine junge Frau lässt sich ein Motiv stechen. Schnitt. Ein älterer Mann erntet im Schrebergarten Gurken. Sächselnd sagt er: "Das kann man nur machen, wenn man ein ganz fleißiger Mensch ist." Schnitt.

Breitwand-Kino Gauting, dritter Tag des Filmseen-Filmfestivals, 18.22 Uhr. In Saal 5 sitzen 18 Leute. Sie sehen "Chemkids", ein Kaleidoskop der Stadt Chemnitz. Eine künstlerische Dokumentation, die mit den Kontrasten von alten und neuen Welten einsteigt, sie über 27 Minuten verwebt und spiegelt. Der Film ist Teil der Kategorie "Short Plus", also mittellanger Filme, wie sie Filmstudenten meist vor dem ersten Spielfilm machen. Eine Bewährungsprobe vor der Königskategorie. Wie kommt er an?

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18.50 Uhr, Abspann. Aus der zweiten Reihe treten zwei junge Menschen zum Filmgespräch vor die Leinwand. Eine davon kommt aus Berg - Viola Pröttel. Die 24-Jährige, kurzer Pony, große Ohrringe, bekommt eine Sonnenblume gereicht, tritt etwas nervös auf der Stelle. Sie war für den Schnitt beim Studienfilm verantwortlich. Im Film stecke sehr viel Denkleistung, sagt sie. "Wir hatten 20 Stunden Material." Das Publikum raunt. "Der Film wurde im Schnitt neu geboren", sagt Studienfreund und Regisseur Julius Gintaras Blum neben ihr. Pröttel lächelt bescheiden.

Es geht ums Präsentieren, Gesehenwerden, Netzwerken, Horizonterweitern, so ist das bei Filmfestivals. Es geht aber auch um die Frage, wie weit es eine quirlige junge Frau noch in der Filmwelt zu bringen vermag, die Fragen der Dramaturgie schon ihr ganzes Leben mit aufgesaugt hat.

Julius Gintaras Blum (rechts) war durch private Verbindungen nach Chemnitz auf die Idee gekommen, das Lebensgefühl der Stadt einzufangen. (Foto: Jörg Reuther/FSFF)
Zum Filmgespräch ist auch Pröttels Familie gekommen (2. Reihe von unten). "Super Viola, hast du gut gemacht", wird Oma Birte am Ende sagen. (Foto: Jörg Reuther/FSFF)
Sich präsentieren, vernetzen, bewerben: All das gehört zum Filmgeschäft. (Foto: Jörg Reuther/FSFF)

Am Tag vor dem Filmgespräch sitzt Pröttel daheim in Berg mit Laptop am Tisch. Hier geht es steil hoch gen Ortsmitte, hier ist sie aufgewachsen, inmitten kreativer Menschen. Ihr Großvater, Dieter Pröttel, war Regisseur und galt als Branchenlegende. Mit der Übertragung von der Internationalen Funkausstellung führt er 1960 bei der ersten deutschen Farbsendung Regie, prägte Unterhaltungssendungen wie den "Talentschuppen" und "Auf los geht's los". Auch Viola Pröttels Vater Philipp ist Filmproduzent. Ein Vorteil? Pröttel zögert, pickt ein paar Krümel vom Tisch. Vor allem, wenn es um's Geschichtenerzählen gehe, sagt sie. Was sie nicht sagt: Auch mit Kontakten muss man sich eine Filmkarriere erst einmal hart erarbeiten.

Heftig sei das grad alles mit dem Filmhype, sagt sie. Hier Oppenheimer, "krasser Cast", dort Barbie, "sehr feministisch", sagt sie. Auf ihrem Bildschirm drängt sich ein Programm mit langen Listen und vielen Reglern. Sie spult eine Szene mit zwei Mädchen vor und zurück. Viele dachten ja, die Montage sei reines Knöpfchendrücken, sagt sie. Dabei habe man so viele Freiheiten. Fakt ist: Mit dem Schnitt hat sie sich das am meisten unterschätze Gewerk in der Filmbranche ausgesucht. Wer weiß schon, wer die Szenen bei "Titanic" oder "Herr der Ringe" ausgewählt, gekürzt und arrangiert hat?

Tatsächlich destillieren die "Editoren", wie sie auch genannt werden, einen Film zu dem, was er am Ende ist. Wie ein Puzzle setzen sie Filmaufnahmen zusammen, betten sie in das große Puzzle der Gesamtdramaturgie ein. Dafür müssen sie auch mal Aufnahmen von verschiedenen Wettertagen zu einem stimmigen Ganzen verschmelzen und in die Kamera guckende Hintergrunddarsteller rausschneiden. "Unsichtbare Kunst", wird das Gewerk der Filmmontage auch genannt. "Ich bin Dramaturgin und Geschichtenerzählerin", sagt Pröttel selbstbewusst.

Nach seinem Tod im Dezember 2022 wurde Dieter Pröttel in einem Tagesschau-Nachruf als "Branchenlegende" gewürdigt. (Foto: Fritz Fischer/dpa)
Im Schnittstudio der Filmakademie Baden-Württemberg ist "Chemkids" über Monate hinweg entstanden. (Foto: privat/oh)

Dass sie nun regelmäßig über Stunden, Tage, Woche, Monate im Schnittraum der Filmakademie Baden-Württemberg vor drei Bildschirmen gleichzeitig sitzt und Szenen x-fach abspult, hat möglicherweise auch etwas mit der Frau zu tun, die an diesem Nachmittag vom oberen Stockwerk des Familienhauses winkt. Es ist ihre Großmutter, Birte Pröttel. Sie schrieb früher TV- und Filmdrehbücher - und schnitt in ihrer Freizeit gerne Familienfilme zusammen. Irgendwann saß auch Enkelin Viola mit am Computer und arrangierte mit. Munter diskutiert wurde ohnehin im Mehrgenerationenhaus. Stimmt das Licht? Macht die Dramaturgie Sinn? Und ist diese Musik nicht schrecklich?

Am Landschulheim Kempfenhausen machte Viola Pröttel mit Unterstützung der Oma einen Film über das Skilager, brannte die Rohlinge und verkaufte sie für zwei Euro das Stück. Ein kleiner Durchbruch: Danach wurde sie zur Haus- und Hoffilmerin der Schule, egal, ob es um Geigenkonzerte oder Theateraufführungen ging. Ihr wurde klar: Die Montage, die ist es.

Auf ihrem Laptop öffnet Pröttel die Website von Crew United, einer Seite, die die verschiedenen Projekte von Filmemachern sammelt. Seit 2017 war sie bereits an über 19 Filmprojekten beteiligt. Nach der Schule hospitierte sie zwei Jahre lang bei den verschiedensten Produktionen. Schnitt Filmtrailer in Berlin, bastelte Akkreditierungskarten für die "José Carreras Gala" zusammen und recherchierte für "Germany's next Topmodel" Filmlocations in Kalifornien. Das klassische Andienen, für den großen Traum vom Film. "In der Zeit hab ich mega viel gelernt", sagt sie.

Die Ludwigsburger Filmakademie gilt als eine der besten der Welt

Die Filmakademie Baden-Württemberg gilt als eine der besten der Welt, aus ihr sind Szenegrößen wie die Regisseure Christian Schwochow, Till Endemann und Nora Fingscheidt hervorgegangen. Für ihren Bewerbungsfilm trommelte Pröttel verschiedene Leute zusammen, die gemäß des vorgegebenen Themas alle auf ihre Art gehen müssen. Die Freundin vor der Pilgerreise, der aus Afghanistan Geflohene, ein Architekt vor der Rente, der Pastor, der sagt, dass am Ende alle irgendwie gehen müssen. "Ein wilder Ritt", sagt Pröttel. Heute finde sie den Film "mega cringe", sprich: voll peinlich.

Doch sie überzeugte. Seit 2019 lebt sie nun in Ludwigsburg, werkelt an Kurzspielfilmen, Musikvideos, Werbefilmen. Stunden über Stunden im Schnittraum. Es scheint ihr zu liegen. Pröttel habe ein "sehr gutes Auge" für die aussagekräftigsten Szenen und ein "starkes Rhythmusgefühl", sagt ihre Dozentin, die Münchner Filmeditorin Ann Carolin Biesenbach. Pröttel dränge einem Film nichts von außen auf, sondern lasse sich auf das jeweilige Projekt ein: "Im Material findet sie die Geschichte." Fähigkeiten, die auch bei "Chemkids" wichtig waren.

Zurück im Kinosaal. 20 Stunden Material. "Das muss ja eine unglaubliche Aufgabe sein", sagt ein Mann im Publikum. Pröttel reibt eine Hand am T-Shirt, schaut zu Blum hoch von ihren 1,55 Metern, erzählt von der Denkleistung, die das Projekt ihr abverlangt habe. Über fünf Monate saßen die beiden neben dem Studium zusammen über Mate-Tee im Schnittstudio. Erst hatten sie das alte und das neue Chemnitz in zwei Blöcke getrennt, die Protagonisten berichteten in Interviews von ihren Schicksalen, wie es in einer Doku halt so ist. Doch der Funke sprang nicht über. Kein Flow, keine Dramaturgie, einfach nichts. Ein Tiefpunkt.

Über fünf Monate saßen Blum und Pröttel immer wieder am "Chemkids"-Experiment. (Foto: privat/oh)
Kassette rein, Musik ab: Der Film spielt mit Kontrasten zwischen dem Chemnitz der DDR... (Foto: FSFF)
...und dem Chemnitz der Generation Z. (Foto: FSFF)

Das Porträt der alten DDR-Stadt ist ein Projekt, das kaum weiter weg sein könnte von dem Schabernack, der Violas Großvater einst groß gemacht hat. Der führte unter anderem Regie bei den Supernasen-Filmen, in denen sich Thomas Gottschalk und Mike Krüger Dialoge zuwarfen wie: "Da soll einer im Park Frauen ansprechen" - "Ich glaub, ich bewerb mich." Heute unvorstellbar, insbesondere nach den Missbrauchsvorwürfen gegen ganz Große der internationalen Branche und der darauffolgenden MeToo-Bewegung. Über die Branche sagt Pröttel nüchtern: "Man muss kein sexistisches Arschloch sein, um gute Filme zu machen."

Chemkids. Wie sollte es weitergehen? Ausmisten, mutig sein, riet Dozentin Biesenbach. Pröttel nahm die Interviews, legte das alte und das neue Chemnitz wie einen Zebrastreifen aneinander, schob den alten DDR-Werbefilm als Grundlage an den Anfang. Zusammen diktierten die beiden das Voiceover ins Handy, als roten Faden, der die Stadt zur Protagonistin machte, mit poetischen Sätzen wie: "Wir liegen auf deinem Beton. Er ist noch ganz warm von der Sonne." Der Knoten war gelöst, im Dezember 2021 war sie fertig, die Achterbahnfahrt durch Chemnitz.

Zusammen mit der Chemnitzerin Selma Juhran entwarfen Pröttel und Blum den Voiceover-Text, der den roten Faden des Films bildet. (Foto: privat/oh)
"Hallo Genossin": Am Ende würdigte Blum Pröttels Einsatz mit einem Dankeszettel. (Foto: privat/oh)

Im Kinosaal legt Pröttel die Hand auf ihr Herz. Die Stadt als Protagonistin, das Voiceover als Rettung. "Oder, Viola?", sagt Ideengeber Blum. Alles richtig, sagt sie und scherzt: "Ist gut geworden." Die Menschen im Saal lachen. Tatsächlich kommt der Film an. "Chemkids" hat es in auf gleich mehrere Filmfestivals geschafft, Saarbrücken, Dresden, Leipzig, aber auch ins Ausland auf die renommierten Szenetreffs "ISFF" in Clermont-Ferrand und "Camerimage" im polnischen Toruń.

Auch den MDR hat der Film begeistert. "Atmosphärisch dicht" und "in modernen Bildern" frage er nach den Möglichkeiten der Generation Z in der ehemaligen Industriemetropole, sagt die ARD-Kurzfilmbeauftragte Daniela Adomat. Der MDR hat den Film gekauft, er soll bei der Kurzfilmnacht im kommenden Frühjahr ausgestrahlt werden. Ein beachtlicher Erfolg für einen Studentenfilm.

Diesen September startet Pröttel in ihr letztes Unijahr. Und dann? Sie weiß ja, dass in Kinofilmen viel Idealismus steckt, Jobs für die großen Produktionen auch mit Kontakten und in Zeiten von Filmboom und Fachkräftemangels umkämpft sind. Sie weiß aber auch, dass es immer bewegtes Bild geben wird, das bearbeitet werden will, und sei es in der Werbung. Köln, München, Berlin? Das lässt sie auf sich zukommen. Sie sagt: "Ich gehe mit dem Flow."

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