Sahra Wagenknecht im Gespräch:Des Pudels Kern

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Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht über ihr Verhältnis zu Goethe - und ob Linke zu wählen die logische Folge dieser literarischen Liebe ist.

Sabine Reithmaier

Sahra Wagenknecht studierte in Jena, Berlin und Groningen Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. Die stellvertretende Parteivorsitzende der Linken schloss ihr Studium mit einer Arbeit über Hegel und Marx ab. Doch am heutigen Mittwochabend wird sie sich mit Autor Manfred Osten im Gasteig über Goethe unterhalten, einen Dichter, den die 41-Jährige Bundestagsabgeordnete seit ihrer Jugend sehr schätzt. Als junge Frau machte sie sogar Führungen im Weimarer Goethehaus.

Sahra Wagenknecht: "Goethe verehren und die heutige Gesellschaft mit Hungerlöhnen, Armut, Hartz IV und Kriegseinsätzen akzeptieren, das geht nicht zusammen." (Foto: SEYBOLDTPRESS)

Sie zitieren Goethe gleich eingangs auf Ihrer Internetseite: "Es gibt nicht Höheres, als die Gedanken des Friedens und der Gerechtigkeit."

Frieden und Gerechtigkeit sind zwei Grundgedanken, zwei Grundpfeiler linker Politik.

Woher kommt der enge Bezug zu Deutschlands berühmtesten Klassiker?

Ich lese Goethe, seitdem ich 16 bin. Ich lese ihn immer wieder und entdecke, je nach Lebensphase, immer wieder Neues in seinen Werken. Den Faust habe ich als Teenager sogar auswendig gelernt.

Den ganzen Faust?

Ja, beide Teile. Man muss sich mit jedem Vers ganz anders auseinandersetzen, wenn man ihn sich merken will. Da entdeckt man vieles, was einem beim bloßen Drüberlesen entgeht. Das war der Sinn. Natürlich kann ich den Text heute nicht mehr aufsagen.

Schade. Aber das erklärt trotzdem noch nicht, warum der Faust für Sie so wichtig ist, dass Sie sich einen ganzen Abend darüber unterhalten wollen.

Gerade in Faust II steckt so viel an Menschheitsgeschichte, kultureller Tradition, humanistischem Anspruch und gesellschaftlicher Perspektive. Daher finde ich es sehr bedauerlich, dass Faust II heute kaum mehr gelesen wird. Dabei ist er hochaktuell. Viele Fragen, die aufgeworfen werden, betreffen uns bis heute.

Ein Beispiel?

Die Grundfrage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wollen wir wirklich, dass alles kommerzialisiert und zur Ware wird, dass Rendite wichtiger ist als Menschlichkeit und soziale Beziehungen? Zu Goethes Zeit war der Kapitalismus noch neu und aufstrebend. Goethe sah einerseits die produktiven Potentiale, die wirtschaftlichen Vorteile, die dieses System bringt, andererseits aber auch seine Unmenschlichkeit und Brutalität. Faust als Unternehmer macht Land urbar. Untrennbar davon ist er verantwortlich für den Mord an Philemon und Baucis, für die Zerstörung der Idylle.

Die Hütte am Strand muss weg, weil Unternehmer Faust dem Meer durch Dammbauten Land abtrotzt.

Goethe ahnte, wie zerstörerisch sich die Jagd nach Profit auswirken kann und dass dadurch soziale Beziehungen und humanistische Werte gefährdet werden. Diese Ambivalenz, diese zwiespältigen Gefühle machen einen großen Teil der Aktualität Goethes aus. Heute ist der Kapitalismus keine aufstrebende Wirtschaftsordnung mehr, sondern eine überlebte. Viele Menschen fragen sich, ob diese gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich alternativlos sind. Im Übrigen lassen sich im Faust sogar Bezüge zur Wirtschaftskrise herstellen.

Weil Mephistoteles das Papiergeld erfindet, das nicht mehr durch Gold, sondern durch die "Unzahl vergrabenen Guts" des Landes gedeckt ist?

Die als ziemlich dekadent geschilderte Gesellschaft am Hofe ist begeistert, weil sie glaubt, mit dem Papiergeld jetzt alles zahlen zu können. Aber natürlich ist das ein Schein-Boom, später fliegt ihnen alles wieder um die Ohren. Denn die Situation im Land ist ein Desaster, alles zerfällt, es wird nicht mehr produziert, sondern jeder betrügt und kämpft gegen jeden. Das sind doch spannende Bezüge. Und es geht immer wieder um die Kernfrage: Ist die totale Kommerzialisierung der Gesellschaft unvermeidlich oder gibt es dazu Alternativen?

Und hat Goethe darauf auch eine Antwort gefunden?

Ja und nein. Er musste als Dichter kein ökonomisches Modell entwerfen. Aber er hat einen humanistischen Anspruch formuliert und eine Hoffnung und Zuversicht. Trotz aller Barbarei und aller Verbrechen in der Geschichte blieb Goethe der Überzeugung, dass die Menschen irgendwann in der Lage sein werden, sich auch menschliche und menschenwürdige gesellschaftliche Verhältnisse zu geben. Faust verfällt nicht dem Teufel, der Ausblick ist optimistisch.

Machen Sie Ihre Interpretation an der späten Erlösung des erblindeten Faust fest?

Wenn Goethe angenommen hätte, dass der Kapitalismus das Ende der Geschichte ist, hätte es keine Erlösung gegeben.

Vielleicht wollte er einfach ein Happy End im Theater.

Wir reden über Dichtung, nicht über Vorabendserien. Für mich drückt sich darin Goethes humanistische Überzeugung aus, dass sich die Menschheit aus einem System, in dem sich alles rechnen und rentieren muss, irgendwann wieder befreit. Ohne allerdings auf seine produktiven Leistungen zu verzichten.

Gilt das auch für andere Werke des Weimarers?

Es gibt kein Werk, das sich nicht zu lesen lohnt. Die "Iphigenie" ist wunderschön, oder der "Egmont", oder auch ein Fragment wie die "Pandora", denn auch hier geht es um das widersprüchliche Verhältnis von industrieller Entwicklung und Kultur und Menschlichkeit.

Das hört sich so an, als wäre Goethe lesen und verstehen und dann Linke wählen für Sie eine ganz logische Folge?

Na ja. So einlinig vielleicht nicht. Aber Goethe verehren und die heutige Gesellschaft mit Hungerlöhnen, Armut, Hartz IV und Kriegseinsätzen akzeptieren, das geht nicht zusammen.

Sahra Wagenknecht, "Goethe trifft Karl Marx - Faust ein Frühkapitalist?" 23.2., 20 Uhr, Black Box Gasteig.

© SZ vom 23.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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