Literatur:Ein Leben mit Fauchschaben

Lesezeit: 2 min

Robert Wolfgang Segel hat selber auch schon im Tierpark Nürnberg gearbeitet. (Foto: Benno Wagner)

Robert Wolfgang Segel erzählt in seinem Roman-Debüt von einem, dem der Bruder verloren ging.

Von Christian Jooß-Bernau

"Diese Monster" nennt sie die Mutter. Nachvollziehen kann sie es nicht, warum ihre zwei Buben immer ausgerechnet vor diesem Terrarium sitzen wollen - im Naturkundehaus im Tierpark Nürnberg. Ein Weihnachtsgeschenk waren sie, die Eintrittskarten, später gar Jahreskarten. Selbst an den Sprung der gebrochenen Fliese auf dem Boden vor der Scheibe erinnert sich Tommi. Dahinter die schiere Faszination: Panzer, zuckende Fühler. "Und sie sind unverwüstlich, leben selbst ohne Kopf noch einige Tage weiter, verdursten nur, weil ihnen die Mundwerkzeuge zum Trinken fehlen" - Fauchschaben aus Madagaskar.

"Ein Schaben" hat Robert Wolfgang Segel sein Romandebüt genannt, erschienen beim kleinen unabhängigen Münchner Schillo Verlag. Bis jetzt hat der 1984 in Fürth geborene Segel einen Erzählband veröffentlicht; im Nürnberger Tierpark hat er selber mal gearbeitet und als Realschullehrer unterrichtet er in München Englisch, evangelische Religion und Biologie. Und das Interesse für diese Themengebiete ist auch in seinen Roman geflossen.

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Der Erzähler Tommi übersiedelt nach seiner Ausbildung als Koch nach England und lässt sich von London faszinieren, als Stadt unausgesprochen ein größter Kontrast zum Nürnberg der Kindheit und Jugend. Hier, wo es die Mutter gibt, die Pastorin, ihr Leben geformt durch den Glauben, gefestigt durch das Gerüst der Bibelzitate. Die ihrem Sohn Michael eine an passender Stelle aufgeschlagene Bibel auf das Nachtkästchen legt, als sie nach dem Fund eines Pornoheftchens für Schwule fürchtet, er sei vom rechten Weg abgekommen.

"Ein Schaben" ist ein Coming-of-Age-Roman auf gut 180 Seiten. Von der Kindheit bis in die Dreißiger - erzählt als langer Brief an den Bruder, den Abwesenden, den Verlorenen, der als Kindheitserinnerung eingeführt wird: "Micha der Haltgeber, Micha der Beibringer, Micha der Erstrebenswerte." Ihre Faszination für die Unverwüstlichkeit der Schaben hat die Brüder verbunden, vielleicht auch, weil vieles andere so vergänglich schien. Frühe Erinnerung an den Vater, der sie sitzen lässt. Vom Erzähler, noch sehr jung, nur am Rande seines Gesichtsfeldes wahrgenommen, vom älteren Bruder nie verarbeitet.

Die Depression ist hier der Einzug des Nichts

Robert Wolfgang Segels Roman ist, ausgehend von der Rätselhaftigkeit der Tierexistenz hinter der Terrariumscheibe, eine große Frage an den Bruder, der nicht mehr antwortet. Der etwas in sich trägt, das wächst, sich aber nicht beziffern lässt. Vielleicht auch, weil alle daran vorbeisehen: am schleichend sich einnistenden Unwohlsein, dem langsamen Rückzug des Bruders, der nicht nur seiner Familie sondern auch sich selbst verloren geht.

Die Depression ist hier der Einzug des Nichts. Der Wortspiele um das Schaben und Ausschaben hätte es gar nicht bedurft, denn Segel hat einen Weg gefunden, das zu erzählen, was es eigentlich nicht gibt, in dem er von den Personen erzählt, die am Rande des Strudels stehen. Mit seiner Jugendliebe Bekka bekommt der Bruder Micha zwei Kinder, heiratet sogar, getraut von der Mutter. Aber hinter all dem, was sich hier als sinnstiftende Hülle aufzubauen scheint, ist immer weniger - und am Ende wird Micha zu dem abwesenden Vater, an dem er selber litt, umstellt, in die Enge getrieben vielleicht auch von den Erwartungen, es besser zu machen: "Würdest du stehenbleiben, wo er umfiel? Würdest du ausharren, wo er floh?"

Segels Erzähler Tommi ist Zeuge, wie dem Bruder das Leben entgleitet. Geschickt angelegt ist diese Figur, weil sich in ihren Sätzen die Depression nur in Teilen spiegelt, nicht aber vollständig erklärt. Was dagegen sehr fühlbar wird, ist die Gravitationskraft der Schuld, der dieser Erzähler ausgesetzt ist. Sich ins eigene Leben zu kämpfen fühlt sich an, wie ein Verrat am Bruder. Er ist nicht wie die Schaben, die Gutes und Schlechtes fressen, "wenn sie sich erst einmal eingenistet haben", und auch die feste Burg, die einem Gott sein soll, singt sich nur so leicht.

Robert Wolfgang Segel: "Ein Schaben", Schillo Verlag, 190 Seiten, 24 Euro

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