Übung der Rettungsdienste:Leben retten in der Chaosphase

Lesezeit: 3 min

Nur scheinbar chaotisch: Die Rettungskräfte koordinieren ihr Vorgehen akribisch. (Foto: Stephan Rumpf)

Wie bei Großeinsätzen die ersten Minuten am Einsatzort koordiniert werden, trainieren Rettungskräfte in einer Halle in Daglfing. Die Ersthelfer tragen dabei eine besondere Verantwortung - obwohl sie oft nicht einmal Verletzte versorgen.

Von Anne Eberhard

Stefan Hansen ist als Erster an der Unfallstelle. Er erkundet die Lage: Ein Auto steht am Ende der Halle, mehrere Menschen liegen auf dem Boden. "Hilfe", ruft jemand, "was ist passiert?" Stefan Hansen beugt sich nicht sofort zu einer der Personen hinunter, um mit der Erstversorgung zu beginnen. Seine Aufgabe ist es, die Situation zu beurteilen, die Anzahl der Patienten an weitere Einsatzkräfte zu melden, Aufgaben zu verteilen. Auch wenn es zunächst so aussieht, als würde niemandem geholfen: Es ist genau das richtige Vorgehen.

Stefan Hansen übt an diesem Mittwochvormittag mit anderen Rettungskräften den Ernstfall. Sie trainieren, wie sie sich bei einem Großeinsatz verhalten müssen. Das Übungs-Szenario: Ein Auto rast in eine Menschenmenge, es gibt mehr als zehn Verletzte.

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Dass es sich um eine Übung handelt, hat Stefan Hansen erst erfahren, als er schon mit dem Rettungswagen unterwegs war. Viel Zeit zur Vorbereitung blieb nicht, denn innerhalb von zwölf Minuten nach dem Notruf müssen die ersten Rettungsfahrzeuge am Unfallort sein. In München gehe es oft noch schneller, sagt Gerhard Bieber vom Münchner Regionalverband der Johanniter. Die ersten Helfer seien oft schon nach acht Minuten an Ort und Stelle.

Stefan Hansen hat sich eine gelbe Weste angezogen, "1. RTW" steht darauf. Es steht für "Erster Rettungswagen" und zeigt, dass er nun die vorläufige Einsatzführung innehat. Eine junge Frau liegt regungslos vor Hansen auf dem Boden, ein Mann krümmt sich und schreit vor vermeintlichen Schmerzen. Aber Erste Hilfe leisten erst die Einsatzkräfte, die später eintreffen. "Hilfe für einen würde die Hilfe für alle verzögern", bestätigt Matthias Fischer vom privaten Rettungsdienst MKT die Regularien.

Dieser Meinung ist auch sein Kollege Luca Bozic vom Rettungsdienst IMS. Die ersten Minuten seien besonders schwierig, sagt er: "Das ist die Chaosphase." Doch gerade diese Zeit ist besonders entscheidend, denn die Maßnahmen der ersten Helfer legen den Grundstein für den weiteren Verlauf des Einsatzes. Genau das ist der Grund, warum ausschließlich diese ersten Minuten an diesem Vormittag Gegenstand der Übung sind.

Das Szenario ist bewusst unübersichtlich: Mehrere Verletzte müssen versorgt werden. (Foto: Stephan Rumpf)

Ein zweiter Rettungswagen erreicht mit Blaulicht die Unfallstelle, dann kommt die Notärztin. Die Sanitäter weisen sie ein, dann verschafft sie sich einen Überblick. Wer ist wie schwer verletzt? Wer ist bewusstlos, wer ansprechbar? Schwerstverletzte bekommen ein rotes Schild um den Hals gehängt, weniger Schwerverletzte ein gelbes, Leichtverletzte ein grünes. So wissen die Ersthelfer sofort, wer am dringendsten Hilfe braucht. Wenig später trifft die Feuerwehr ein und beginnt mit der Vorbereitung der Patiententische. In einem abgetrennten Bereich stellen sie acht gelbe Tragen und einige Rucksäcke mit Material bereit.

An der Übung sind Hilfsorganisationen, Notärztinnen und Notärzte, private Rettungsdienstbetreiber sowie die Feuerwehr München beteiligt. Trainiert wird in einer großen Halle in Daglfing. Insgesamt 500 Personen bereiten sich eine Woche lang auf den Ernstfall vor. Insgesamt 27 Mal wird das gleiche Szenario durchgespielt - jedes Mal mit rund 60 Einsatzkräften.

Am Ende des zwölften Einsatzszenarios zeigt sich Übungsleiter Roman Leitow zufrieden. Allerdings: Die Einsatzkräfte der Feuerwehr hätten schneller mit der Erstversorgung beginnen müssen, anstatt gemeinsam die Patientenablagen vorzubereiten. In der Nachbesprechung werden die Beteiligten darauf hingewiesen, Handlungsoptionen bewertet. Die Erkenntnisse sollen in künftige Konzepte einfließen.

Die Übung soll auch auf Einsätze bei der Fußball-Europameisterschaft vorbereiten

Die Übung soll die Teilnehmer unter anderem auf die Fußball-Europameisterschaft vorbereiten, die im Juni 2024 beginnt. "Was wir üben, muss aber auch heute hier funktionieren", sagt Leitow. Ein- bis dreimal im Jahr komme ein solcher Großeinsatz in München vor. Ziel der Übung sei es, auch für solche seltenen Situationen Handlungssicherheit zu erlangen.

Bei einem Einsatz dieser Größenordnung hat Stefan Hansen noch nie die Einsatzleitung übernommen. "Wir werden gut vorbereitet", sagt er, trotzdem sei es im Ernstfall immer anders als in der Theorie. Als Erster am Unfallort zu sein und sich ein Bild von der Lage zu machen, anstatt direkt zu helfen, sei schwierig. "Man muss sich aktiv zurückhalten", sagt er. Gerade deshalb sei es wichtig, den Ernstfall immer wieder zu üben. Das gilt übrigens für alle: Wer als Passant vor den Rettungskräften am Unfallort eintrifft und Erste Hilfe leistet, entscheide manchmal über Leben und Tod, sagt Gerhard Bieber. "Das Wissen dafür sollte jeder regelmäßig auffrischen."

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