Anfang September ist eine junge Frau stark blutend im Pasinger Stadtpark gefunden worden. Seither ermittelt die Polizei: Ist die Frau von Rechtsradikalen zusammengeschlagen worden? Vieles spricht dafür, die Verletzungen und der Bericht des Opfers. Doch Zeugen der Tat oder eindeutige Beweise haben die Ermittler bisher nicht gefunden.
Zwei Wochen nach der mutmaßlich rechten Attacke erwähnte das Polizeipräsidium den Fall in seinem Pressebericht und veröffentlichte einen Zeugenaufruf. Bei der Münchner Opferberatungsstelle "Before" zeigt man sich verwundert: "Warum hat es so lange gedauert, bis man öffentlich nach Zeugen gesucht hat?"
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Mit der SZ spricht die junge Frau nun selbst öffentlich über ihre Erlebnisse - am Tatabend im Pasinger Stadtpark und danach. Sie ist 19. Von dem, was am 3. September kurz nach 20 Uhr passiert ist, hat sie nur "ein Bild im Kopf" - Erinnerung will sie es nicht nennen.
Zu Fuß will sie an diesem Abend durch den Pasinger Stadtpark Richtung Institutstraße gehen, eine Freundin besuchen. Ein paar Minuten sind das nur. Über eine der Fußgängerbrücken, das weiß sie später noch, ist sie schon gegangen. Es ist dämmrig. Auf ihrem Rucksack hat sie einen Aufkleber der "Antifaschistischen Aktion München". Plötzlich, so erzählt die 19-Jährige, habe sie hinter sich eine Männerstimme rufen gehört: "Sch... Antifa!"
Sie blickt sich kurz über die Schulter um, sieht aus den Augenwinkeln, wie jemand ein paar Meter entfernt hinter ihr geht. Sie geht weiter. Noch mehr Beschimpfungen folgen, was genau, daran könne sie sich nicht mehr erinnern. Denn jetzt tut sich die Lücke auf. Ein kurzes Bild ist noch da, eine verschwommene Momentaufnahme. Da sieht sie sich schon am Boden liegen. Und erlebt einen Schlag, einen Stoß in die Rippen.
Die Gymnasiastin wägt ihre Worte genau ab. Sie will nichts dazu erfinden. "Ich bin froh, dass ich mich an so wenig erinnern kann", sagt sie sechs Wochen später. Das wenige, das sie noch weiß, ist schlimm genug für sie. Deshalb möchte die Münchnerin auch nicht, dass ihr Name in der Zeitung genannt wird.
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Das nächste, woran die junge Frau sich erinnert, ist, dass sie blutüberströmt durch den Stadtpark irrt. Viele Menschen sind zu der Zeit noch unterwegs. Doch obwohl sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten, obwohl das Blut aus einer Kopfplatzwunde tropft, hilft zunächst niemand. Erst in der Nähe des Pasinger Krankenhauses, im Steinerweg, nehmen sich Passanten der Verletzten an. Ein Krankenwagen wird gerufen, auch die Polizei. Dort wird der Notruf unter "Gestürzte Fahrradfahrerin" registriert. Dabei hatte die 19-Jährige gar kein Fahrrad dabei. Die junge Frau ist völlig benommen, kann nicht sagen, was genau passiert ist. Doch, dämmert ihr dann, da war etwas. Die Beschimpfungen, die ihr zugerufen worden sind. Das erzählt sie den Sanitätern. Dann wird sie ins Krankenhaus gebracht, Streifenpolizisten sind dabei.
Sie sei selber schuld, habe einer der Uniformierten ihr am Krankenbett zu verstehen gegeben, berichtet die junge Münchnerin. Es wäre ein Muster, das die Berater des Vereins "Before", die Opfern rechter Gewalt helfen, gar nicht selten erleben - dass Opfer zu Mitschuldigen gemacht würden, dass gefragt werde: Was habe eine junge Frau in der Dämmerung alleine dort zu suchen? Vielleicht sei eine Tat ja provoziert worden? Und vielleicht stimme das alles gar nicht so, wie es das Opfer erzähle? Genau so empfindet es die 19-Jährige. "Die Verantwortung wird bei den Opfern abgeladen", sagt Damian Groten von der Beratungsstelle Before. Wenn deren Perspektive nicht anerkannt, ihr Blick auf das Geschehene als nicht wichtig eingeordnet werde, könne das die Wirkung des Erlebten auf die Betroffenen verstärken und den Umgang mit den Folgen erschweren. "Ich habe mich verarscht gefühlt", sagt das Opfer heute. Sie habe die Uniformierten weggeschickt. Und sich gefragt: "Warum wird so jemand Polizist?"
Am nächsten Tag bekommt die 19-Jährige im Krankenhaus erneut Besuch, diesmal sind es Kriminalbeamte. Und kaum ist sie nach zwei Tagen entlassen, bittet ein Ermittler sie, mit ihm in die Rechtsmedizin zu fahren. Der Mann ist Staatsschutzbeamter, der für politisch rechts motivierte Delikte zuständig ist. Die Kriminalpolizei nimmt die Sache also ernst, sieht Indizien für einen mutmaßlich rechten Hintergrund der Tat. Öffentlich macht die Münchner Polizei den Vorfall aber zunächst nicht. Als eine Woche später erste Nachfragen kommen, heißt es aus der Pressestelle: Vieles sei denkbar, eine Körperverletzung, aber auch ein Sturz.
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Ein Sturz? Die Ärzte stellen zahlreiche Verletzungen fest: eine Platzwunde am Kopf, Abschürfungen im Gesicht. Die junge Frau zeigt Fotos. Die Unterarme sind übersät mit blauen Flecken. "Und genauso sahen meine Schienbeine aus", berichtet sie. "Die Polizei sollte Menschen, die von rechter Gewalt betroffen sind, zuhören und ihre Aussagen ernstnehmen", sagt Groten. "Gesellschaft und Behörden sollten es wert schätzen, wenn Betroffene es auf sich nehmen, von ihren Erfahrungen zu berichten." Wenn die Darstellung der Opfer nicht beachtet werde, spreche das den Betroffenen die Glaubwürdigkeit ab.
Die Münchner Polizei betont inzwischen, das sei keineswegs ihre Absicht gewesen. Auf Nachfrage heißt es: "Die Zeugin hält einen körperlichen Angriff für möglich, was unter Berücksichtigung des von ihr geschilderten Vorgeschehens nachvollzogen werden kann." Eine politische Tatmotivation erscheine möglich, weshalb das zuständige Fachkommissariat 44 bereits am Tag nach dem Vorfall die Ermittlungen übernommen habe. Ein besonders dunkles Hämatom zeigen die Fotos in der Rippengegend der 19-Jährigen. Es ist die Stelle, an der der Stoß sie getroffen haben soll. Als sie schon am Boden lag. Der Stoß, an den sie sich noch erinnern kann.
Diese "Momentaufnahme", wie sie sagt, sei zum ersten Mal gekommen, als sie am 17. September zusammen mit den Ermittlern den Pasinger Stadtpark besuchte. Die Polizei wollte das Geschehen rekonstruieren. Die Stelle des Überfalls fanden sie nicht mehr. Zu viele Tage sind vergangen, mögliche Blutspuren verschwunden. Aber die junge Frau ist sich sicher: Die Attacke muss von hinten erfolgt sein. Sonst hätte sie sich gewehrt, denkt sie heute. Die Blutergüsse an Unterarmen und Schienbeinen? Es könnte eine Abwehrhaltung gewesen sein, gegen Schläge oder Tritte, glaubt sie selbst. Der Ermittler und die Ärzte, so schätzt es das Opfer ein, hielten eine Gewalttat für wahrscheinlicher als einen Sturz. Auch DNA-Proben nimmt die Polizei, vielleicht hat ein Angreifer Spuren hinterlassen. Zwei Wochen nach der Tat geht die Polizei, die in dem Fall nicht weiterkommt, an die Öffentlichkeit. Mit einem Aufruf und Fahndungsplakaten sucht sie Zeugen (Telefon 089/29100). Die Frau könne sich nicht erinnern, wie es zu ihrer Verletzung kam, schreibt die Polizei auf dem Plakat. Zu diesem Zeitpunkt haben Medien bereits über den Fall berichtet, hat Before einen eigenen Zeugenaufruf gestartet (kontakt@before-muenchen.de, Telefonnummer 089/46224670), haben Freunde des Opfers in einer spontanen Demo darauf aufmerksam gemacht, was der Gymnasiastin widerfahren ist.
Es gibt Menschen, die gesehen haben müssen, was an jenem 3. September im Pasinger Stadtpark geschehen ist. Gemeldet hat sich von ihnen noch niemand. Unter dem Zeugenaufruf von Before steht auf Twitter ein einziger Kommentar eines Users: "Juckt keen." Der Mann kommt, wie seine Tweets unschwer erraten lassen, aus der rechten Ecke. Die junge Münchnerin aber hofft weiter, dass ihr Fall doch jemanden "juckt", dass Zeugen sich melden: "Denn es würde leichter fallen, wenn man wüsste, wer es war."
Tagsüber, sagt sie, und unter Freunden könne sie mit dem Ereignis einigermaßen umgehen. Doch nachts, da kommt die Angst. Sie verschwindet nicht so schnell wie die körperlichen Wunden, die allmählich verheilen. Neulich musste die Gymnasiastin zum ersten Mal wieder durch den Pasinger Stadtpark. Allein. In der Dämmerung. Sie ist gerannt.