"Nicht gesehen, nicht erkannt zu werden, unsichtbar zu sein für andere, ist wirklich die existentiellste Form der Missachtung", schrieb die Publizistin Carolin Emcke 2019. Das Zitat baute Ilona Holzmeier prominent auf einem Hintergrund aus sanften Regenbogenfarben in ihr Storytelling ein. Die digitale Erzählung begleitete die Ausstellung "To be seen. Queer lives 1900-1950" im NS-Dokumentationszentrum München, die im Frühjahr zu Ende ging, mehr als 100 000 Besucher zählte und sogar in der New York Times besprochen wurde. Für die gelungene Umsetzung der Inhalte im virtuellen Raum erhielt Holzmeier zusammen mit Karolina Kühn, der Kuratorin der Ausstellung, vor Kurzem den Grimme-Online-Award.
Dank des Storytelling ( https://www.stories.nsdoku.de/tobeseen) können all jene, die die Schau verpasst haben, den Besuch jetzt und in Zukunft virtuell nachholen. Noch nie wurde die Geschichte des queeren Lebens in Deutschland so umfassend und so anschaulich erzählt. Fotos, Filmausschnitte, kurze Erklärtexte, Zeitdokumente und Zitate wechseln sich ab. Die Texte sind auch auf Englisch verfügbar.
"Das Thema ist so vielschichtig, dass uns schnell klar war: Wir brauchen eine Plattform, die vor, während oder nach dem Museumsbesuch die Inhalte so aufbereitet, dass möglichst viele Zielgruppen sich angesprochen fühlen", sagt Ilona Holzmeier. Das scheint gelungen zu sein. "Wir hatten noch nie so eine große Reichweite in Social Media und so viele Rückmeldungen von Institutionen und Privatpersonen wie auf diese Ausstellung und dieses Storytelling", berichtet Holzmeier.
Der Zugang funktioniert auf mehreren Ebenen. So wird kurz erklärt, was queer überhaupt bedeutet, dass der Begriff ursprünglich ein abwertender Ausdruck für Homosexuelle war, seit den 1990er Jahren aber von vielen nicht-heterosexuellen und non-binären Menschen als positive Selbstbezeichnung verwendet wird. Zeitschriften-Cover, Theaterankündigungen, Variete-Einladungen, Annoncen und Polizeiakten machen deutlich, wie vielfältig das queere Leben schon vor 100 Jahren war. Und wie bedroht. Bildschirmfüllende Fotos von Menschen, die schon damals für ihre Rechte kämpften, zusammen mit kurzen biografischen Angaben, schaffen Nähe und Verständnis.
Da ist das Bild von Lili Elbe. Sie wurde im Berlin der 1920er Jahre durch ihre Geschlechtsangleichung bekannt. Elegant, wilde Locken, dunkel umrandete Augen, einen Fächer in der Hand, so blickt sie die Betrachter an.
Oder Hope Bridges Adams Lehmann: Die Gynäkologin plädierte in ihrem "ärztlichen Ratgeber für die Frau" (1897!) für ein partnerschaftliches Zusammenleben der Geschlechter und für ein neues Verhältnis zur Sexualität. "Raus mit den Männern aus dem Reichstag" schrieb 1928 in einem Liedtext die Sängerin Claire Waldoff, die mit Kurt Tucholsky befreundet war und die in Berlin einen lesbischen Salon unterhielt.
Oder Magnus Hirschfeld. Der aus liberalem jüdischem Elternhaus stammende Mediziner war ein Pionier der Sexualwissenschaft. "Das Geschlecht des Menschen ruht viel mehr in seiner Seele als in seinem Körper, oder, um mich einer medizinischen Ausdrucksweise zu bedienen, vielmehr im Gehirn als in den Genitalien", schrieb er schon 1907. Ein Satz, der heute noch Sprengkraft hat. Hirschfeld kämpfte gegen die Kriminalisierung von Homoerotik. Das von ihm gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wurde zur zentralen Anlaufstelle für Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung, bis es 1933 nationalsozialistische Studenten und SA-Leute zerstörten.
"Das Besondere an der Ausstellung und dem Storytelling, das natürlich nur Ausschnitte zeigen kann, ist, dass der Fokus nicht auf der Verfolgungsgeschichte liegt und dass auch nicht nur männliche Homosexuelle in den Blick genommen werden, sondern die Vielfalt queeren Lebens", sagt Karolina Kühn.
Holzmeier ist eigentlich Theaterwissenschaftlerin
Bei der Vermittlung geht das NS-Dokumentationszentrum unter der Direktorin Mirjam Zadoff seit einiger Zeit neue Wege. Es lässt Opfergruppen zu Wort kommen, die bislang unterrepräsentiert waren. Und weil immer weniger Zeitzeugen noch leben, spielen digitale Medien eine zunehmende Rolle. Ilona Holzmeier, 34, ist studierte Theaterwissenschaftlerin und seit fünf Jahren im NS-Dokuzentrum für die Online-Kommunikation und Vermittlung zuständig. "Man kann mit dem Format des Storytelling auch persönliche Geschichten erzählen, das macht es so anschaulich", sagt sie. Sie hat schon mehrere solcher digitaler Erzählungen geschaffen, etwa die Lebensgeschichte des Zeitzeugen Ernst Grube. Dass "To be seen. Queer lives" jetzt mit dem renommierten Grimme-Preis gewürdigt wird, sei "eine Super-Auszeichnung", freut sie sich.
Weil es das Storytelling auch auf Englisch gibt, erreicht es internationale Sichtbarkeit. "Und gerade, wenn heute immer wieder behauptet wird, dass Queer-Sein doch eine ,Mode' sei, oder wenn in der aktuellen Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz für trans*, inter* und nicht binäre Personen immer wieder aufkommt, so etwas habe es früher nicht gegeben - dann lohnt sich ein Blick in die Geschichte", sagt Kühn. Auch Lehrer benützten das Storytelling im Unterricht. Es zeigt, dass der Schutz von Minderheiten ein elementares Menschenrecht ist - und dass Diktaturen diesen Schutz als erstes abschaffen. "Auch ich habe bei dieser Ausstellung sehr viel dazugelernt", sagt Ilona Holzmeier. Ein Eintrag im Gästebuch blieb ihr besonders in Erinnerung. Jemand schrieb: "Selten habe ich mich in einer Ausstellung so gesehen gefühlt."