Pflegende Angehörige:Zu erschöpft für eine Demo

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"Stille Demo" für eine bessere häusliche Pflege: Der Sozialverband VdK gibt Angehörigen, die sich um ihre Liebsten kümmern, auf den 300 Plakaten eine Stimme. (Foto: Catherina Hess)

Ein Schilderwald auf dem Marienplatz soll auf die Notlage pflegender Angehöriger aufmerksam machen. Den Betroffenen selbst fehlt zum Protestieren die Kraft und die Zeit.

Von Nicole Graner

Von oben sieht der Schilderwald vor dem Rathaus auf dem Marienplatz aus wie ein begehbares Mahnmal. Wachrütteln, das Bewusstsein schärfen sollen die 300 grün-blauen Plakate schließlich auch. Denn der Sozialverband VdK macht am Dienstag mit dieser "Stillen Demo" auf die Missstände in der häuslichen Pflege aufmerksam - nicht nur in München, sondern auch in weiteren sechs Innenstädten wie Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Bayreuth, Passau und Regensburg.

Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörige haben kaum eine Lobby. "Und sie haben", sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele, "weder Kraft noch Zeit, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen." Der Schilderwald solle diese "Unsichtbarkeit" beenden, die "Nächstenpflege pushen".

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"Ohne Pflege zu Hause bricht das Pflegesystem zusammen. Sorgt endlich für spürbare Entlastungen!", lautet ein Plakat-Zitat von Friedrich Ahl, 66, aus Reinheim. 500 000 Pflegebedürftige leben in Bayern. 80 Prozent davon werden zu Hause gepflegt, zwei Drittel ausschließlich von Angehörigen. Insgesamt 750 000 Menschen pflegen ihre Angehörigen. Das sind Zahlen, die Ulrike Mascher, Landesvorsitzende des Sozialverbands in Bayern, nennt. Und sie bestätigen Friedrich Ahl. Denn auch Mascher warnt davor, dass dieses System kurz vor dem "Zusammenbruch" stehe. Eine erste, aussagekräftige Pflegestudie, die der VdK 2021 initiiert hat, belegt diese Sorge. 56 000 Mitglieder haben bundesweit mitgemacht. 22,3 Prozent gaben laut Mascher in Bayern bei der Befragung an, mehr als 40 Stunden pro Woche für die Pflege aufzuwenden.

Jeder dritte pflegende Angehörige klagt selbst über tägliche Beschwerden

"Meine Frau ist 84 und braucht Pflege, ich werde 76 - und jetzt?", macht sich Friedrich Reimann, 75, aus Berlin auf einem Plakat Luft. Laut VdK-Studie ist ein Drittel der pflegenden Angehörigen bereits im Ruhestand. Nicht nur ihnen, sondern auch allen anderen Pflegenden macht die "Nächstenpflege" zu schaffen. Viele können keine Nacht mehr durchschlafen, ihren Angehörigen oft nicht einmal für eine Stunde allein lassen. Wer aber "ständig über seine körperlichen und seelischen Grenzen hinausgeht", sagt Bentele, "fällt irgendwann als Pflegeperson aus". In Bayern klagen 31,4 Prozent der pflegenden Angehörigen über tägliche Beschwerden wie Atemnot, Schwindel, Herzklopfen oder Erkrankungen des Bewegungsapparats.

"Mehr Tagespflegeplätze! Unser Opa braucht einen Platz. Oma kann nicht mehr." Susanne Pfeil aus Germering gibt ihrer pflegenden Angehörigen auf einem Plakat im Schilderwald eine Stimme und verweist damit auf ein gravierendes Problem: die fehlenden Tagespflegeplätze - von Nachtpflegeplätzen ganz zu schweigen. "Zappenduster" sehe es damit in Bayern aus, sagt Ulrike Mascher. München habe, verdeutlicht Sozialreferentin Dorothee Schiwy (SPD), nur "85 fixe Plätze".

Der VdK fordert etwa den Ausbau der Tagespflege

Der VdK fordert den Ausbau von Entlastungsangeboten und Tagespflegeeinrichtungen, die Anrechnung der häuslichen Pflege auf die Rente und die Entbürokratisierung von Antragswegen. Laut Bentele würden Leistungen oft nicht abgerufen. Allein 93 Prozent aller Pflegenden bundesweit hätten noch nie eine Tagespflege in Anspruch genommen. Aufklärung täte Not, sagt Bentele. "Viele Berechtigte kennen ihre Ansprüche gar nicht." Pflegestützpunkte könnten helfen. Diese gebe es, erklärt Bezirkstagspräsident Josef Mederer, mittlerweile in 16 von 23 oberbayerischen Landkreisen. Die Stadt München hat keinen Pflegestützpunkt, setzt aber auf 32 Alten-und Servicezentren, die zum Thema Nächstenpflege auch Beratungsangebote anbieten. Wie auch auf 13 Fachstellen für pflegende Angehörige. Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek (SPD) will die Angebote der Stadt aber noch "gezielter und klarer" herausstellen.

Im Schilderwald ist was los. Viele Menschen gehen hindurch. Manche fotografieren, manche diskutieren vor den Plakaten. Eine 55-jährige Besucherin aus Sachsen-Anhalt sagt spontan: "Gute Idee das hier. Die Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, brauchen Anerkennung!"

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