Wiesn-Wache:Abgründe in der Arrestzelle

Lesezeit: 3 min

Von der Einsatzzentrale aus werden alle Einsätze auf dem Festgelände gesteuert. (Foto: Robert Haas)

Bayerns zeitweise größte Polizeiwache steht auf der Theresienwiese. Welche Extreme bei den etwa 600 Beamten im Lauf des Oktoberfests aufschlagen.

Von Martin Bernstein

Es geht schon los, bevor es losgeht. Noch mehr als drei Stunden, bis auf dem Oktoberfest die Eingänge für Besucher geöffnet und die Glastüren der Wiesnwache aufgesperrt werden. Doch in der zeitweise größten Polizeidienststelle Bayerns klingeln bereits die Telefone. Der Anlass: Krach zur Unzeit. Als Ort der Stille ist die Wiesn nicht bekannt. Aber wenn um 6.45 Uhr Techno-Beats aus einem Festzelt wummern, dann ist das schon ein Vorgang, der von den diensthabenden Beamtinnen und Beamten registriert wird. Nicht nur, weil das rhythmische Gerumpel und Gestampfe bis in die Wache am Behördenhof zu hören ist.

Wenn es dunkel wird über München und die Wiesn samt Besuchern zu Höchstform aufläuft - und oft genug weit darüber - , dann ist die Wiesnwache nicht selten ein Ort, an dem Abgründe sichtbar werden. Abstürze sowieso. Wie der des Mannes in nicht mehr ganz sauberer Feinripp-Unterwäsche, der seinerzeit während einer der Vor-Corona-Wiesn beim Abtransport zum Polizeipräsidium in der Ettstraße noch schnell etwas loswerden wollte, soweit die Zunge noch mitmachte: dass das nämlich ein Verstoß gegen die Menschenwürde ... und er irgendwie vom Fach ... und überhaupt, in die Presse, jawohl, da hinein müsse das alles. So war und ist das, je später der Abend wird.

Oktoberfest
:Mehr als sieben Millionen Besucher: München feiert Rekord-Wiesn

Bier wird dabei deutlich weniger getrunken als noch 2022, dafür war Alkoholfreies und Wasser nachgefragt. Wie der zweite Teil des Oktoberfests verlief in der Nachlese.

An diesem Morgen aber sind die Arrestzellen wieder und noch sauber und leer. Ebenso Arzt-, Untersuchungs- und Vernehmungszimmer. An den Bildschirmen, über die später die Aufnahmen von 54 Überwachungskameras flimmern werden, sitzt noch niemand. Die Rollos am Chefzimmer im Untergeschoss der Wiesnwache sind unten. Bis auf die Musikpanne ein ruhiger Morgen.

Das wird sich noch ändern an diesem Tag. Nicht nur, weil sich der bayerische Innenminister angesagt hat. Der Besuch ist, wie viele andere Stippvisiten und Ereignisse, bei denen Polizisten gebraucht werden, in einem internen Wiesn-Kalender vermerkt. Aber natürlich auch exakt vorbereitet, bis hin zu den Laufwegen.

Nicht alles, was am Tresen im Wachraum der Polizei ankommt, ist gleich sicherheitsrelevant, auch wenn dort Kriminalbeamtinnen und -beamte die ersten Ansprechpartner sind. Freiwillige im Oktoberfest-Einsatz, wie alle 600 Polizisten, die auf der Bierparty und drumherum Dienst tun. Zumindest versichert das jeder, den man im Polizeipräsidium danach fragt. Es soll sogar mehr Interessenten als Plätze geben und schon mal verstimmte Inspektionsleiter, wenn die eigenen Leute nicht zum Zug kommen.

240 Wiesn-Einsätze an einem Abend waren der Rekord

Peter Schwaiger, der Polizeihauptkommissar, der als Erster seinen Sitz in der Oktoberfest-Einsatzzentrale einnimmt an diesem Morgen, ist seit mehr als 30 Jahren dabei. Ein-, zweimal habe er sich schon gesagt: Das sei jetzt aber das letzte Mal gewesen - doch dann ... Es sei einfach diese Atmosphäre. Die kurzen Wege. Das Miteinander, auch zwischen Kriminal- und Schutzpolizei. Schwaiger rutscht sogar das Wort "Familie" heraus. Den Dienst auf der Wiesnwache könne man nicht vergleichen mit dem Polizeialltag im Rest des Jahres.

Noch sitzt Schwaiger alleine in dem Raum mit den vielen Bildschirmen. Später werden bis zu vier Kolleginnen und Kollegen dazukommen. Die Einsätze werden von dort gesteuert. Der Bildschirm in der Mitte, der mit den aktuellen Wiesn-Einsätzen, ist noch leer. Das wird sich ändern. Am deutlichsten abends an den Wochenenden. Der Rekord liege bei 240 Einsätzen an einem Oktoberfest-Abend, erinnert sich Schwaiger.

Arbeiten auf der Wiesn fühlt sich für Peter Schwaiger ein wenig nach "Familie" an. (Foto: Robert Haas)

Die Einsatzgruppen der Polizei sind immer unterwegs, am Abend natürlich mehr als tagsüber. Außerdem Drogen- sowie Taschendiebfahnder. Deren Quartier ist im Untergeschoss der Wiesnwache. Zuschauen darf man ihnen nicht. Sie wollen nicht erkannt werden, kennen ihrerseits ihre Klientel aber ganz genau. 21 Taschendiebe wurden vergangenes Jahr festgenommen - und 174 Menschen, die illegale Drogen dabei oder intus hatten.

Die Wiesnwache ist auch Anlaufstelle. Und sei es nur, weil jemand glaubt, dort sein Handy aufladen zu können. Oder weil ein anderes, ebenso dringliches Bedürfnis drückt. Dreisprachige Aufschriften auf der Glastür versichern auf Deutsch, Englisch und Italienisch: Nein, das sei hier keineswegs möglich. Der Hinweis ist offenbar nötig. Die ersten Kunden an diesem Mittwochmorgen suchen ebenfalls, was ihnen die Polizei nicht bieten kann: Verlorenes. Doch das offizielle Wiesn-Fundbüro ist nebenan. Es öffnet allerdings erst um 13 Uhr.

Es ist dann die Zeit, in der es auch auf der Wiesnwache immer lebhafter wird. Bis zum Höhepunkt am Abend. Wenn Schichtwechsel auf den Bierbänken ist, dann kommen sich die, die noch nicht gehen wollen ("Oana geht no nei"), und die, die jetzt endlich "Ein Prosit der Gemütlichkeit" anstimmen wollen, schnell mal in die Haare. Es gibt allerdings auch seltene Fälle, deren Weg direkt auf die Wiesnwache führt, ohne Umweg durchs Festzelt. Ein junger Mann kommt da schon einmal derart alkoholisiert und aggressiv am Eingang zur Theresienwiese an, dass er in Handfesseln in die Arrestzelle gebracht wurde - und dort bis zum Ende des Tages blieb.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusAnstieg des Drogenkonsums
:Immer mehr echtes Koks auf der Wiesn

Jeden Tag erwischt die Polizei auf der Wiesn zwischen zehn und zwanzig Drogen-Straftäter, in diesem Jahr wurde bereits der Halbzeitrekord von 2019 geknackt. Vor allem Kokain wird konsumiert - und sogar als Zahlungsmittel genutzt.

Von Martin Bernstein

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: