Als frisch Zugezogene in München lernt man schnell, dass es kompliziert bis unmöglich ist, sich dem Oktoberfest zu entziehen. Es gibt kaum eine Firma, die ihren Mitarbeitern nicht einen Tisch reserviert und kaum eine Freundesgruppe, die sich nicht hier trifft. Auf dem Oktoberfest finden Geschäftsessen statt, Geburtstage, hier wird das Feierabendbier getrunken. Während ich noch vor drei Monaten der Meinung war: "Nie im Leben gehe ich auf das Oktoberfest", musste ich nun herausfinden: Es gibt kein Entkommen.
Wahl, Wiesn und mehr: Zum Jahresende präsentieren wir die Lieblingstexte der Redaktion. Alle Geschichten aus München und dem Rest Bayerns finden Sie auf dieser Seite.
Es ist auch nicht einfach damit getan, kurz mitzugehen, eine Mass zu trinken und sich dann zu verabschieden. An jeder Ecke lauert ein Fettnäpfchen. Bayerische Kollegen rollen mit den Augen, wenn man das Wort "Wiesn" versehentlich mit einem zweiten "e" schreibt. Wenn man noch "auf den Wiesn" (Dat., pl) statt "der Wiesn" (Dat., singl) sagt, darf man in der nächsten Mittagspause alleine essen.
Beim Oktoberfest gibt es für alles Regeln: Wie lang das Dirndl sein soll (über die Knie!), wie es aussehen soll (keine knalligen Farben!), welche Schuhe dazu getragen werden (keine Highheels!). Auch die Schürze gilt es nach bestimmten Vorschriften zu binden, je nachdem ob man gerade Single, vergeben, verwitwet, Jungfrau oder Kellnerin ist - kein Scherz. Eigentlich müsste die Stadt jedem Neumünchner einen Integrationskurs verschreiben, damit sich der Zugezogene nicht gleich wegen Unwissens in die gesellschaftliche Isolation katapultiert. Weil das bayerische Integrationsgesetz bisher aber nur für Ausländer und nicht für Norddeutsche gilt, hole ich das eben nach - mit diesem kleinen Glossar:
Festzelt: Auf keinen Fall sollte man den Fehler machen und denken, dass ein Festzelt tatsächlich ein Zelt ist. Es ist vielmehr eine riesige Scheune. Mit Balkonen, Strom, Türen und so weiter. Dadrin ist es sehr laut und stickig, ohne Reservierung kann man eigentlich gleich im Biergarten bleiben.
Kotzhügel: Der Ort, an dem man auf keinen Fall landen will, befindet sich hinter dem Hofbräu- und Hackerbräuzelt und war angeblich mal DER Treffpunkt für Wiesnbesucher, die ihre Getränke schnell und unkompliziert loswerden wollten. Nachdem die Polizei dort Kameras aufgebaut hat und ein Zaun aufgestellt wurde, ist es nach Aussage altgedienter Wiesnhasen nicht mehr so heftig.
Wiesnkoks: Nicht erschrecken, wenn die Tischnachbarn auf einmal weißes Pulver von ihrem Handrücken durch die Nase ziehen. Bei den sogenannten Erfrischungsbrisen handelt es sich lediglich um Traubenzucker. Das hat auch keinen großartigen Effekt, außer dass die Nase sich etwas freier anfühlt. Interessanter wird es da schon beim braunen Pulver, dem Schnupftabak. Der enthält Nikotin und verursacht zumindest einen kleinen Schwindel. Beides ist auf der Wiesn sehr beliebt, in den Zelten ist nämlich Rauchen verboten.
Das Dirndl: Unter der Gefahr, alle meine früheren Freunde zu verlieren, habe ich mich entschieden, dem Dirndl zumindest eine Chance zu geben. Nur, wo bekomme ich so ein Teil günstig her? 100 Euro aufwärts kostet das mindestens, mit Schürze und Bluse ist man bei 200 Euro - für Menschen, die das Oktoberfest ernst nehmen, lohnt sich das wahrscheinlich. Wenn man nicht zu diesen Menschen gehört, ist das dann doch ein wenig teuer. Profitipp: Einfach mal Oma fragen. Auch wenn sie aus Norddeutschland kommt. In ihrer Generation, so erzählt sie, waren Dirndl nämlich auch an der Ostsee noch hip. Deswegen hat sie gleich zwei und war so nett, mir eins davon zuzuschicken. Das Exemplar stammt aus dem Jahr 1955 und ist erstaunlich gut in Takt: Keine Löcher und nur zwei Flecken auf der Schürze.
Getragen habe ich es dann allerdings doch nicht: Selbst wenn 17 Grad und bewölkt im Norden als Hochsommer gilt, habe ich mich für Jeans entschieden. Klingt nach fauler Ausrede? Ist es auch.