Über allem schwebt wie immer Aloisius und spielt auf seiner Harfe. Der bayerische Engel - übrigens eine Erfindung Ludwig Thomas - ist beileibe keiner, der nicht gerne vier Mass oder ein paar Nasen Schmaizla (hochdeutsch: Schnupftabak) zu sich nehmen würde. Angesichts der irren Party, die da unter ihm stattfindet, dürfte es aber selbst ihm, dem Lebeengel, manchmal ganz übel werden.
Als Figur baumelt Aloisius von der Decke des Hofbräuzelts. Genau das ist auf dem Oktoberfest das Epizentrum der Eskalation. Nirgendwo sonst liegen Knutschen und Kotzen so nah beieinander. Nirgendwo sonst ist die Party so ehrlich und mitreißend - und kann doch so ekelhaft und abstoßend sein.
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Dem Anstich war der Quasi-Säulenheilige noch ferngeblieben. Aber nun ging ein Raunen durch die Menge: The eagle has landed.
Die großen Bierzelte entlang der Wirtsbudenstraße haben alle ihren ganz eigenen Stil, optisch wie stimmungsmäßig. Das Augustiner-Festzelt ist vermutlich das traditionellste, das Hacker-Pschorr das münchnerischste, die Bräurosl das schwulste und das Winzerer Fähndl das hippste aller Zelte. In Sachen Exzess und Eskalation aber können sie dem Hofbräuzelt alle nichts vormachen. Abgefahrener ist die Party nirgends.
Schon in den 80er-Jahren war das nicht anders. Die weltweite Berühmtheit des Hofbräuhauses in der Münchner Innenstadt hat schon immer täglich Tausende Touristen in das gleichnamige Zelt auf der Wiesn gelockt. Engländer, Australier und Neuseeländer aber wollten beim Feiern nicht sitzen, weil sie es aus den Pubs in ihrer Heimat anders gewohnt waren. Auf der Wiesn gingen sie noch einen Schritt weiter und tanzten auf den Tischen. Das Kreisverwaltungsreferat schaltete sich ein und drohte mit Konsequenzen. Der damalige Wirt im Hofbräu, Günter Steinberg, richtete daraufhin den bislang einzigen Stehbereich auf dem Oktoberfest ein. Um "seine angelsächsischen Gäste in Zaum zu halten", wie er sagt.
Heute fasst diese Stehplatzkurve im zweitgrößten Zelt auf der Wiesn etwa 1000 Besucher. Die Szenen, die sich dort abspielen, sind manchmal so erschreckend, dass man unfreiwillig zweimal hinsehen muss. Und über allem liegt ein beißender säuerlicher Geruch. Der Schweiß der nassgetanzten Partyleute mischt sich mit Alkoholfahnen und schlechtem Parfum. Sägespäne auf dem klebenden Boden bedecken provisorisch das Erbrochene. Den Geruch aber überdecken sie nicht.
Männer mit Filzhüten spucken sich über eineinhalb Meter Entfernung Bierfontänen in den Mund und schlucken wie selbstverständlich. Eine junge Asiatin torkelt entlang des Gangs und klappt samt Masskrug zusammen, weil ihre Beine das Besäufnis nicht mehr mittragen können oder wollen.
Die Stufe hat ein Mann, zwei Meter entfernt, schon hinter sich gelassen. Nun versucht er verzweifelt, die Kontrolle über seine Beine zurückzugewinnen, um auf einen Holzzaun zu klettern. Man sieht ihn nur noch fallen. Mit dem Gesicht knallt er auf den Boden, bleibt reaktionslos liegen und fängt an, aus Nase und Mund stark zu bluten. Die Freundin führt den taumelnden Mann aus dem Zelt.
Die Party hat auch eine faszinierende Seite
Es sind Eindrücke aus 15 Minuten. Man will gar nicht wissen, was sonst noch so alles passiert. Verstörend, wie gesagt. Aber umso verstörender wirkt alles, weil es ja auch noch diese andere Seite der Party gibt: eine durchaus faszinierende. Im Hofbräuzelt treffen Menschen aus der ganzen Welt aufeinander - und die meiste Zeit feiern sie ausgelassen und friedlich. Für Münchner Schickimicki ist hier im Stehbereich kein Platz. Rein modisch mögen das Fest im "Touri-Zelt", wie es manche Münchner abschätzig nennen, ganz schrecklich finden. Doch irgendwie hat es doch seinen Charme, wenn zwischen all den supergestylten Münchnern ein Robin Hood mit Fake-Lederhose oder aus der Menge aufblasbare Einhörner zum Engel Aloisius aufsteigen.
Unvergleichlich ist aber vor allem die kollektive Ekstase, wenn inbrünstig spielenden Isarspatzen von Alois Altmann "Hey Jude" von den Beatles oder "Time of my Life" aus Dirty Dancing darbieten. In kaum einem anderen Zelt werden die englischsprachigen Schlager und Pop-Songs so lautstark und leidenschaftlich mitgebrüllt wie hier im Hofbräuzelt. Um die legendäre Rockband AC/DC mit einigen Songs zu covern, kommt ein neuer Sänger auf die Bühne, dessen Stimme so schräg und kratzig klingt, als hätte man sie mit der Motorsäge bearbeitet. Seine Kollegen spielen aufblasbare E-Gitarren und machen Head-Banging. Die Meute rastet komplett aus.
Genau deshalb polarisiert das Hofbräuzelt wie kein zweites auf der Wiesn: Es ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Natürlich verändert es sich auch. Noch vor wenigen Jahren etwa hatten vor allem weibliche Besucher im Rausch massenweise ihre Slips und BHs auf die Wolke und die Harfe des Aloisius geworfen. Dieses Ritual ist heute so gut wie verschwunden. Die Party aber mit all ihren Abgründen wird noch lange weitergehen. Ob es Aloisius gefällt oder nicht.