Oktoberfest für Anfänger:Was machen die Münchner da nur?
Lesezeit: 4 Min.
Bayern, bitte wegschauen. Dieser Text richtet sich an Menschen, die das Wort "Wiesn" für einen Plural halten und "Mass" mit langem "a" aussprechen.
Von Camilla Kohrs
Als frisch Zugezogene in München lernt man schnell, dass es kompliziert bis unmöglich ist, sich dem Oktoberfest zu entziehen. Es gibt kaum eine Firma, die ihren Mitarbeitern nicht einen Tisch reserviert und kaum eine Freundesgruppe, die sich nicht hier trifft. Auf dem Oktoberfest finden Geschäftsessen statt, Geburtstage, hier wird das Feierabendbier getrunken. Während ich noch vor drei Monaten der Meinung war: "Nie im Leben gehe ich auf das Oktoberfest", musste ich nun herausfinden: Es gibt kein Entkommen.
Es ist auch nicht einfach damit getan, kurz mitzugehen, eine Mass zu trinken und sich dann zu verabschieden. An jeder Ecke lauert ein Fettnäpfchen. Bayerische Kollegen rollen mit den Augen, wenn man das Wort "Wiesn" versehentlich mit einem zweiten "e" schreibt. Wenn man noch "auf den Wiesn" (Dat., pl) statt "der Wiesn" (Dat., singl) sagt, darf man in der nächsten Mittagspause alleine essen.
Beim Oktoberfest gibt es für alles Regeln: Wie lang das Dirndl sein soll (über die Knie!), wie es aussehen soll (keine knalligen Farben!), welche Schuhe dazu getragen werden (keine Highheels!). Auch die Schürze gilt es nach bestimmten Vorschriften zu binden, je nachdem ob man gerade Single, vergeben, verwitwet, Jungfrau oder Kellnerin ist - kein Scherz. Eigentlich müsste die Stadt jedem Neumünchner einen Integrationskurs verschreiben, damit sich der Zugezogene nicht gleich wegen Unwissens in die gesellschaftliche Isolation katapultiert. Weil das bayerische Integrationsgesetz bisher aber nur für Ausländer und nicht für Norddeutsche gilt, hole ich das eben nach - mit diesem kleinen Glossar:
Festzelt: Auf keinen Fall sollte man den Fehler machen und denken, dass ein Festzelt tatsächlich ein Zelt ist. Es ist vielmehr eine riesige Scheune. Mit Balkonen, Strom, Türen und so weiter. Dadrin ist es sehr laut und stickig, ohne Reservierung kann man eigentlich gleich im Biergarten bleiben.
Kotzhügel: Der Ort, an dem man auf keinen Fall landen will, befindet sich hinter dem Hofbräu- und Hackerbräuzelt und war angeblich mal DER Treffpunkt für Wiesnbesucher, die ihre Getränke schnell und unkompliziert loswerden wollten. Nachdem die Polizei dort Kameras aufgebaut hat und ein Zaun aufgestellt wurde, ist es nach Aussage altgedienter Wiesnhasen nicht mehr so heftig.
Wiesnkoks: Nicht erschrecken, wenn die Tischnachbarn auf einmal weißes Pulver von ihrem Handrücken durch die Nase ziehen. Bei den sogenannten Erfrischungsbrisen handelt es sich lediglich um Traubenzucker. Das hat auch keinen großartigen Effekt, außer dass die Nase sich etwas freier anfühlt. Interessanter wird es da schon beim braunen Pulver, dem Schnupftabak. Der enthält Nikotin und verursacht zumindest einen kleinen Schwindel. Beides ist auf der Wiesn sehr beliebt, in den Zelten ist nämlich Rauchen verboten.
Das Dirndl: Unter der Gefahr, alle meine früheren Freunde zu verlieren, habe ich mich entschieden, dem Dirndl zumindest eine Chance zu geben. Nur, wo bekomme ich so ein Teil günstig her? 100 Euro aufwärts kostet das mindestens, mit Schürze und Bluse ist man bei 200 Euro - für Menschen, die das Oktoberfest ernst nehmen, lohnt sich das wahrscheinlich. Wenn man nicht zu diesen Menschen gehört, ist das dann doch ein wenig teuer. Profitipp: Einfach mal Oma fragen. Auch wenn sie aus Norddeutschland kommt. In ihrer Generation, so erzählt sie, waren Dirndl nämlich auch an der Ostsee noch hip. Deswegen hat sie gleich zwei und war so nett, mir eins davon zuzuschicken. Das Exemplar stammt aus dem Jahr 1955 und ist erstaunlich gut in Takt: Keine Löcher und nur zwei Flecken auf der Schürze.
Getragen habe ich es dann allerdings doch nicht: Selbst wenn 17 Grad und bewölkt im Norden als Hochsommer gilt, habe ich mich für Jeans entschieden. Klingt nach fauler Ausrede? Ist es auch.
Auf dem Festgelände angekommen, sieht das Oktoberfest erst einmal aus wie ein gewöhnlicher Rummel: Grell leuchtende Achterbahnen, Eurodance, überteuerte Essensstände und viel zu viele Menschen. Der wesentliche Unterschied zum Hamburger Dom oder dem Weihnachtsmarkt am Berliner Alexanderplatz sind die Bierzelte (die keine Zelte sind, siehe oben). Ohne Reservierung sollte man am Wochenende gar nicht erst probieren, in eins hinzukommen, für spontanere Menschen gibt es immerhin die Biergärten. Auch bei der Zeltauswahl gibt es einiges zu beachten: Im Hofbräu, kurz auch einfach HB genannt, halten sich vor allem Touris aus englischsprachigen Ländern auf, die nach kurzer Zeit schon auf den Tischen stehen und unter "Chug Chug, Chug"-Rufen ihre Biere exen. Im Käfer trifft man angeblich allerhand C-Prominenz, und wahre Münchner präferieren wohl die Schützen-Festhalle. Mehr dazu in diesem Video (Achtung: Sprachbarriere).
Findet man einen Platz, wartet die nächste Gefahr: das Bier. Wird nur in Ein-Liter-Gefäßen ausgeschänkt, die "Mass" mit kurzem "a" heißen und nicht "Maß" mit langem "a", wie man in Restdeutschland annimmt. Es hat mindestens sechs Prozent und wer denkt, dass man den Alkoholkomsum mit fettigem Essen ausgleichen kann: nein. Das Essen ist zwar teuer, die Portionen aber oft klein. In den Zelten ist es so laut, dass ich nach kurzer Zeit Kopfschmerzen bekomme und meine kleine, gemütliche Lieblingskneipe vermisse.
Interessanter ist dann die Oide Wiesn - ein abgetrennter Bereich in der südwestlichen Ecke der Theresienwiese, der übersetzt "Alte Wiese" heißt. Dort ist das Oktoberfest traditioneller, ausnahmslos alle Menschen tragen Tracht und Getränke werden in Tonkrügen serviert. Es gibt sogar eine Traktorenausstellung. Das Beste sind aber die Fahrgeschäfte: Zwar kostet der Eintritt zur Oiden Wiesn drei Euro, dann aber jede Attraktionen nur einen Euro. Zum Beispiel das knallbunte Drehkarrussel "Calypso" aus den späten 50er Jahren oder die Hexenschaukel, in der die Fahrgäste bei Schwarzlicht eingesperrt werden, während sich die Wände um sie drehen. Und beim Armbrustschießen gibt es lustige Trostpreise wie Knallerbsen.
Auf der Oiden Wiesn verläuft man sich auch weniger schnell, und man kann eine kleine Pause machen. Denn das restliche Oktoberfest ist eine absolute Reizüberflutung mit viel Potenzial zum Fremdschämen. Einmal muss ich jedoch nochmal hingehen: Meine Oma hätte gern noch ein Dirndl-Foto.