Münchner Momente:Nachts an der Tankstelle

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Um 21.58 Uhr sollte man in der Stadt in diesen Tagen tunlichst nicht am falschen Ort sein

Kolumne von Tom Soyer

Gleich 22 Uhr. Andere Städte haben ja eine ausgeprägte Liebe zu spät nachts geöffneten Einkaufsmöglichkeiten. In München gibt es eher nicht so die riesige Auswahl. Ein Kiosk an der Isar, ein paar Supermarkt-Ausnahmen und natürlich die großen Tankstellen am Mittleren Ring, wie die hier an der Chiemgaustraße. Kein Späti-Budenzauber, nur nüchternes Cash & Carry-Ambiente mit üppiger Bier- und Spirituosen-Auswahl zu ebensolchen Preisen. Schon tagsüber so teuer, als wäre ein Nachtzuschlag dabei. Schnell an die Diesel-Zapfsäule. Die Tankstelle mit dem roten Lichtdesign hat rund um die Uhr geöffnet und ist ein stark besuchtes Autoposer-Biotop. Gruppenweise fallen auf hochglanzpolierten Felgen junge Menschen ein, parken ihre getunten Wagen, palavern draußen ohne Masken, aber eng beieinander - und wollen sich dann und wann drinnen mit Flüssigem eindecken. Nicht nur für ihre BMWs und GTIs.

Nach dem Tanken an die Kasse. 21.57 Uhr. Geöffnet hat nur ein Schalter, weil der Kollege mit Trassierband Dreiviertel des Ladens einkreist und absperrt. Corona-Sperrstunde. Ab 22 Uhr darf kein Alkohol mehr verkauft werden. Verdutzte Gesichter, als Nachschub-Abordnungen um 21.58 Uhr durch die Automatiktüre treten und rot-weißes Klebeband sich als große Enttäuschung vor die Objekte der durstigen Begierde zieht. "Echt jetzt!?" Die Beschränkungen scheinen sich nicht in alle Communitys verbreitet zu haben. Die Autoposer stehen mit ihrer "last order" nervös in der Kassenschlange. Nun hat sich der Aushilfskassierer auch noch bei dem Dieseltanker vor ihnen vertippt. "Wie geht das mit dem Storno?", ruft er dem Kollegen zu. Das kann andere jetzt ganze Biertragl kosten.

Der Dieseltanker wendet sich lieber nicht mehr um. Das hatte er neulich an gleicher Stelle schon mal, allerdings war da nicht die 22-Uhr-Grenze das Problem, sondern die fehlende Maske eines Autoposers, der ihm aus 40 Zentimetern Abstand in den Nacken schnaubte. Für seinen kurzen fragenden Blick wäre der maskenbewehrte Dieseltanker beinahe zum Opfer geworden: "Was' los?", zischte der bärtige Hüne. "Wenn Du Stress machst, mach ich Dir richtig Stress!" Er wirkte brutal glaubwürdig. Und jetzt auch noch dieser blöde Storno. Corona ist ein ungemein aggressives Virus, heißt es. Ja, spürt man neuerdings sogar an der Tanke.

© SZ vom 20.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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