Wohnungsnot:"Wir betreiben Mangelverwaltung"

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Mehr als 10 000 Menschen in München brauchen dringend eine Sozialwohnung, die meisten gehen leer aus - ein Gespräch mit Gerhard Mayer vom Sozialreferat

Interview von Bernd Kastner, München

Gerhard Mayer leitet seit Jahresbeginn das Amt für Wohnen und Migration im Sozialreferat. Ein Gespräch über Mängel, Nöte und Wünsche.

SZ: Wie wirkt sich die Pandemie auf den Wohnungsmarkt aus?

Gerhard Mayer: Seit Juli ist die Zahl der Anträge auf eine geförderte Wohnung massiv gestiegen. Aufs ganze Jahr gesehen werden wir rund 36 000 Anträge haben, 20 Prozent mehr als im Vorjahr.

Worauf führen Sie den Anstieg zurück?

Wir nehmen an, dass die Menschen wegen der Pandemie verstärkt versuchen, an günstigen Wohnraum zu kommen. In Kombination damit, dass vielen Einnahmen weggebrochen sind. Deshalb unterschreiten mehr Menschen die Gehaltsgrenzen und haben jetzt das Recht auf eine geförderte Wohnung.

Liegt der Anstieg der Antragszahlen seit Juli daran, dass da der Kündigungsschutz bei Mietrückständen auslief?

Vermutlich gibt es einen Zusammenhang. Weil da vielen klarer geworden ist, dass es finanziell eng werden könnte. Und dass man seine Wohnung verlieren könnte.

Bekommen Sie für Ihr schon lange überlastetes Wohnungsamt mehr Personal?

Der Stadtrat hat gerade weitere vier Stellen beschlossen.

Reicht das?

Wir bekamen ja Anfang des Jahres schon mal Personal zugeschaltet, diese Stellen wurden wegen der Haushaltskrise im Zuge der Coronakrise aber erst jetzt besetzt.

Die Bewerber müssen sehr lange warten, bis ihr Antrag auf eine Sozialwohnung erst mal nur bearbeitet und klar ist, dass man berechtigt ist.

Derzeit liegt die Wartezeit bei vier bis sechs Monaten.

Wie reagieren Ihre Klienten darauf?

Da ist keiner erfreut. Wir bekommen viele Nachfragen, oft nach zwei, drei Monaten: Wie steht es denn um meinen Antrag? Das ist verständlich, es führt aber dazu, dass die Bearbeitung noch länger dauert, weil wir die Nachfragen ja auch beantworten müssen.

Wer auf eine geförderte Wohnung wartet, fragt sich oft, warum sich nichts tut. Viele sind verzweifelt und verstehen die Kriterien hinter der Vergabe nicht.

Es gibt inzwischen ein automatisiertes Verfahren. Fünf Personen werden aus den Bewerbern ausgewählt und dem Vermieter vorgeschlagen. Entscheidend ist die Dringlichkeit, die sich an der Punktzahl ablesen lässt. Wenn mehr als fünf Bewerber in der obersten Stufe sind, wählt der Computer nach dem Zufallsprinzip aus.

Mitunter beobachten Bewerber den Auswahlprozess kritisch und fragen: Warum kriegt ein Geflüchteter, der erst seit ein paar Jahren hier lebt, eine Wohnung, und ich als deutscher Staatsbürger nicht? Was sagen sie demjenigen?

In Unterkünften leben Tausende, die als Flüchtlinge anerkannt sind und ein Recht auf eine Sozialwohnung haben - und auch keine bekommen. Das sind anteilsmäßig, im Vergleich zu Menschen mit deutschem Pass, deutlich mehr.

Trotzdem: Können Sie den Unmut verstehen, wenn Menschen jahrelang warten?

Natürlich. Ein Bürger hat ja einen Anspruch auf eine Wohnung, wenn er oder sie in einer Notlage ist - und dann funktioniert das nicht. Der Grund ist: Wir betreiben Mangelverwaltung. Es gibt zu wenig geförderte Wohnungen, und die Pandemie führt nicht dazu, dass die Fluktuation höher wird. Wir sind also sehr auf Neubau angewiesen.

Wie viele Sozialwohnungen werden denn pro Jahr neu vergeben?

In diesem Jahr etwa 3200. Das ist weniger als sonst, in den vergangenen Jahren waren es meist um die 3300, einmal auch 3900. Ein paar Neubauten verzögern sich ins nächste Jahr, das wirkt sich statistisch aus. Unser Ziel ist, dass wir 4000 schaffen, dass so viele Wohnungen pro Jahr neu vermietet werden, egal ob im Neubau oder im Bestand.

Und wie viele Menschen stehen auf der Warteliste?

Aktuell haben wir in der höchsten Dringlichkeitsstufe 9000 bis 10 000. De facto sind es aber um die 13 000, weil unter den unbearbeiteten Anträgen ja auch noch Tausende sind, die in die höchste Stufe kommen.

Würden Sie angesichts der dramatischen Lage Menschen mit wenig Geld empfehlen, München zu meiden? Nach dem Motto: Überlegt euch gut, ehe ihr herzieht, oder: Sucht euch was in einer anderen Stadt, um wegziehen zu können.

Nein. Ich halte nichts davon, Menschen in andere Städte wegzuschieben. Umgekehrt aber würde ich niemanden raten, nach München zu kommen und zu erwarten, in absehbarer Zeit eine geförderte Wohnung zu bekommen. Das funktioniert nicht. Aber das alles ist immer die persönliche Entscheidung der Menschen, das Wohnungsamt hat keine Regulierungsmöglichkeit.

Ihr Haus ist auch für Migration zuständig. Sind Migranten stärker von der Wohnmisere betroffen?

Grundsätzlich trifft die Wohnungsnot alle gleich. Aber Menschen in Gemeinschaftsunterkünften mit nur einem Zimmer leben in einer meist noch schwierigeren Situation als andere, die zwar wenig Platz haben, aber immerhin eine eigene kleine Wohnung.

Seit Jahren leben etwa in der Bayernkaserne viele Familien sehr beengt, mit Gemeinschaftsduschen und -küche. Kinder verbringen so ihre halbe Kindheit. Leidet darunter die Integrationsbereitschaft?

Das glaube ich nicht. Das Problem ist der eigene Raum, den man als Kind zur Entwicklung braucht. Der ist in einer Unterkunft stark eingeschränkt, weil es keine Rückzugsmöglichkeiten gibt, wenn die Familie gemeinsam in einem Zimmer lebt. Für die Hausaufgaben müsste es ruhig sein, um konzentriert zu lernen, es ist aber oft nicht ruhig. Und auch Freunde kann man kaum einladen. Wir haben im Wohnungslosensystem 1700 Kinder und Jugendliche unter 18, die fast alle in einer solchen Situation aufwachsen. Das ist eine Katastrophe.

Gibt es wegen Corona auch mehr Wohnungs- und Obdachlose?

Die Zahlen in dem Bereich steigen nur ganz leicht. Aktuell zählen wir etwa 9500 wohnungslose Menschen, da sind die Obdachlosen, die also auf der Straße schlafen, eingerechnet.

Haben Sie eine Idee, wie sich die Wohnungsmisere lindern ließe?

Jede Wohnung, die uns ein Eigentümer zur Vergabe überlässt, hilft einem bisher wohnungslosen Haushalt. Man muss auch in so kleinen Schritten arbeiten.

Gibt es denn private Vermieter, die der Stadt Wohnungen überlassen?

Ja, die gibt es.

Viele?

Es sind nicht Tausende. Wir sind schon froh, wenn wir so in einem Jahr 20 Wohnungen bekommen. Kürzlich hat ein Hausbesitzer seine Verwaltung angewiesen, die Wohnungen in Absprache mit uns zu belegen. So was freut uns.

Klingt nach Weihnachtswunsch des Wohnungsamtschefs: Gebt uns Wohnungen!

Das ist tatsächlich ein Wunsch. Es gibt ja auch das Ankaufprogramm für Belegrechte: Da zahlt die Stadt Vermietern Geld, um mehr Wohnungen an jene zu vermitteln, die es dringend nötig haben.

Was hat ein Vermieter davon?

Er kann Mietspiegelmiete verlangen und hat sichere Einnahmen, weil die Stadt dahintersteht. Er spart sich den großen Run von Hunderten Interessenten. Und er hat ein gutes Gefühl, weil er Gutes tut.

© SZ vom 19.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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