Zwölf Kieselsteine liegen auf dem bunten Teppich. Im Kreis angeordnet, symbolisieren sie ein System: eine Familie, eine vertraute Gemeinschaft, eine gemeinsame Zeit. In dem hellen Raum der Psychologin Christiane Schmermer finden sich noch weitere Gegenstände: bunte Farbtuben, Muscheln, Figuren oder Zeichnungen. Auch zwei bequeme Ledersessel und eine gemütliche Couch stehen im Zimmer. Wer hier Platz nimmt, braucht solch einen Ort. Die 54-Jährige begleitet in ihrer Praxis Kinder und Erwachsene, die mit dem Tod einer nahestehenden Person konfrontiert wurden. Die nötige Erfahrung dazu hat sie zuvor während 13 Jahren bei der Beratungsstelle "Die Arche" in der Krisenberatung gesammelt.
So kam in diesem Frühjahr zum Beispiel eine junge Frau zu ihr, deren Ehemann tödlich verunglückt war. Gemeinsam mit den beiden Kindern sitzt sie nun auf dem bunten Teppich. Schmermer nimmt einen Kieselstein auf die Seite, wie in der jungen Familie entsteht eine Lücke in dem gelegten Kreis. Das Bild veranschaulicht, dass Bewegung nun unerlässlich ist, um die Leere zu füllen. "Die verbleibenden Familienmitglieder werden sich verändern, näher zusammenrücken, Rollen und Aufgaben werden neu verteilt", sagt Schmermer. Im Beziehungsaufbau mit den Betroffenen geht es ihr vor allem um die Erlaubnis, dass "alles sein darf", jede emotionale Ausdrucksform in Ordnung ist. Sei es Rückzug, Rebellion, Wut oder Traurigkeit. Es gibt nichts Falsches.
"Jeder hat die Fähigkeit, zu trauern." Und damit meint die Therapeutin nicht die Zumutung, schon irgendwie mit dem Verlust fertig zu werden, sondern vielmehr die Ermutigung, dass jeder über Werkzeuge und Mechanismen der Verarbeitung verfügt. "Ich habe mir gut überlegt, in die Depression abzurutschen oder nicht", sagt Renata Bauer-Mehren. Als junge Frau stand sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes alleine mit sechs Kindern da. Und musste Abschied nehmen: Die heute 75-Jährige spricht die beiden Worte langsam aus und betont dabei besonders das "nehmen". Denn es geht nicht nur ums Hergeben und Verlieren, sondern gleichzeitig um das bewusste Annehmen des eigenen Lebens, welches weitergeht. Einige Jahre später gründete sie das Münchner Institut für Trauerpädagogik, sie begleitet dort bis heute Betroffene, schreibt Bücher und gibt Fortbildungen.
"Der Verlust ist das eine, aber eigentlich ist es eine Trauer um sich selbst", sagt Bauer-Mehren. Die eigene Machtlosigkeit wird spürbar, vermeintlich sichere Lebenspläne kippen. Diese einhergehende Unsicherheit wird durch die Corona-Krise verstärkt. Wie soll in dieser Zeit voller Unwägbarkeiten und verordneter Distanz der Tod einer nahestehenden Person verarbeitet werden? "Die Krise anerkennen" sei der erste Schritt. Ist aufgrund von Infektionsgefahr und Zutrittsbeschränkung kein angemessener, persönlicher Abschied in der Klinik möglich oder führt die Abstandsregel zu einer Isolation in der Trauer, sind kleine Rituale wichtig. Geliebte Gewohnheiten, Orte oder den vertrauten Geruch bewusst in Erinnerung rufen und verabschieden, sich Zeit und Raum dafür nehmen. "Auch ein duftendes Bad kann helfen", empfiehlt Bauer-Mehren, um die fehlende körperliche Wärme zu kompensieren und die Sinne zu beruhigen.
Schwierig und zugleich wichtig sei dennoch der Blick nach vorne und das Zulassen eines neuen Lebensabschnitts: "Das chinesische Schriftzeichen für Krise besteht aus zwei Silben, die einzeln betrachtet Gefahr und Chance bedeuten", erzählt Christiane Schmermer. Sie berichtet von einem Patienten, der von seiner verstorbenen Mutter einen alten Bauernhof geerbt hat. Anfangs überfordert, hat der Verwaltungsangestellte schließlich sein Leben umgekrempelt. Er hängte seinen Beruf an den Nagel und baute den Hof als Flüchtlingsunterkunft um. Der Stillstand eines Lebens löst nicht selten ein Innehalten bei den Hinterbliebenen aus, es entstehen Fragen: Wie möchte ich mein Leben gestalten, was ist mir wirklich wichtig?
Das Leben eines Menschen zu feiern, statt den Tod zu betrauern, sieht Karl Albert Denk als Auftrag. Der 38-jährige Bestattermeister spürte bereits vor der Corona-Krise eine Tendenz zu individuell gestalteten, lebensbejahenden Abschiedsfeiern. In den vergangenen Monaten hat sich diese Entwicklung verstärkt: In Zeiten der strikten Kontaktbeschränkung war Improvisation und Spontaneität gefragt, besonders aufgrund der sich schnell ändernden Vorgaben der städtischen Friedhofsverwaltung. Wo früher ein monatlicher Newsletter kam, gab es in der "schlimmsten Zeit", wie er sie nennt, täglich neue Regelungen oder Einschränkungen. "Hier ist leider viel Verwirrung entstanden", sagt er rückblickend. Dass aber Video- und Tonaufnahmen sehr zügig durch die Stadtverwaltung erlaubt wurden, wertet er als positive Begleiterscheinung einer neuen, mitunter krisenbedingten Trauerkultur. Durften in den Aussegnungshallen nur fünf oder zehn Gäste sein, war durch Livestreams zumindest die virtuelle Teilhabe möglich.
Die neuen Möglichkeiten der Technik kennt auch Alexander Pechtl, der im Münchner Südwesten ein Bestattungsunternehmen leitet. Einer 80-Jährigen, die während des Lockdowns ihren Mann verloren hat, half er erst einmal bei der Installation eines Skype-Zugangs, damit die ältere Dame aus der Quarantäne heraus die Beerdigung planen konnte. Inzwischen ist sie routinierte Internet-Nutzerin und chattet regelmäßig mit ihrem Sohn, der in London lebt.
Die Abschiedsrede als Livestream vor einem Tablet vorzutragen, war selbst für Trauerredner Tassilo Leitherer neu. Seit sieben Jahren verpackt er die Lebensgeschichten von Verstorbenen in angemessene Worte. Aber auf gar keinen Fall "ähnlich einem Bewerbungsschreiben, mit tabellarischem Lebenslauf", betont er. Kommt er zum Vorgespräch mit den Hinterbliebenen, bringt er vor allem eines mit: Zeit. "Ich bleibe so lange, wie nötig." Bis alles erzählt ist und er die Persönlichkeit des Verstorbenen erfassen kann.
Wenn es passt, baut Leitherer eigene Gedichte in die Rede ein. Selbst wenn dazu "Highway to Hell" gespielt werden soll, sei das für ihn in Ordnung, "es muss ja nicht immer das Ave Maria sein." Bei den Einschränkungen, welche die Pandemie bei Beerdigungen vorschrieb, sah er sich in erster Linie als Vermittler. Zwischen Regeln und Einschränkungen der Friedhofsverwaltungen auf der einen Seite. Und der Traurigkeit der Hinterbliebenen fernab von Teilnehmerzahlen und Zeitfenstern auf der anderen Seite.
Wie Karl-Albert Denk sieht er die Corona-bedingten Veränderungen mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Durch den kleineren Kreis entstanden persönlichere Gespräche unter den Hinterbliebenen, der Fokus richtete sich mehr auf den Moment des Abschiednehmens. Dieser verlagerte sich in den Sommer-Monaten häufig ins Freie, dort blieb mehr Zeit. Auf Weihwasser oder Erde als rituelle Beigaben musste aufgrund der Vorschriften verzichtet werden, dafür wurden Rosenblätter, vereinzelt sogar Leberkäs-Semmeln oder Bierflaschen ins offene Grab gelegt. Manchmal wurde Sekt ausgeschenkt oder man breitete Picknickdecken auf der Friedhofswiese aus. In jedem Fall gab es kreative Lösungen.
Im Dialog mit der Verwaltung entstanden neue Brücken und mehr Zusammenhalt. "Den Betroffenen das wenigste Gefühl der Einschränkung zu geben" war Karl Albert Denk in dieser Zeit besonders wichtig. Der Abschied fand anders statt, "aber keineswegs schlechter", resümiert er. Wie es jetzt im Winter wird? "Auf jeden Fall müssen wir uns wärmer anziehen" sagt Tassilo Leitherer. Was pragmatisch klingt, meint er voller Zuversicht. Entscheidend sei immer der Mensch und die Wertschätzung ihm gegenüber, und das sei "unabhängig von der Temperatur oder der erlaubten Gästezahl".
Welche Botschaft bleibt nun den Betroffenen - in einer Zeit, in der nicht nur die Tage dunkler und kälter werden, sondern auch das Miteinander und der Kontakt im engsten Familienumfeld erneut einzufrieren droht? Nähe und eine echte Umarmung lassen sich nicht ersetzen. Umso wichtiger sei es, mit sich selbst achtsam umzugehen und sich im Zweifel Hilfe von außen zu holen. Christiane Schmermer ermutigt Betroffene, sich eine Trauerbegleitung "zu erlauben". Nimmt man Kontakt mit ihr auf, erscheint in ihrem Profilbild ein Comic der Peanuts, mit zwei Sprechblasen: "Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy". "Das stimmt, Charlie Brown. Aber an allen anderen Tagen werden wir es nicht".