Dokumentation:"Trotz ihres achtenswerten Wollens"

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Die Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 2. April 1924. In der Ausgabe wurde ausführlich über die Urteile im sogenannten "Hitler-Prozess" berichtet. (Foto: SZ)

Was die Münchner Neuesten Nachrichten, Vorgängerzeitung der SZ, über das Urteil im Hitler-Prozess im April 1924 schrieben.

Von René Hofmann

Die parlamentarische Demokratie beseitigen und eine nationalsozialistische Diktatur errichten: Das waren die Ziele des Putschversuchs von Adolf Hitler und Erich Ludendorff. Am 8. November 1923 riefen sie im Bürgerbräukeller in München deshalb eine "nationale Revolution" aus; am nächsten Tag initiierten sie - in Anlehnung an den"Marsch auf Rom" der italienischen Faschisten um Benito Mussolini - einen "Marsch auf Berlin", um dort die Macht im Deutschen Reich zu übernehmen. Am Odeonsplatz stoppte die Bayerische Landespolizei den Zug jedoch mit Waffengewalt. Vier Polizisten, ein Passant und mehr als ein Dutzend Putschisten starben.

Hochverrat lautete die Anklage, die wegen des Putschversuchs von Februar 1924 an vor dem bayerischen Volksgericht in München verhandelt wurde. Angeklagt waren neben Hitler und Ludendorff acht weitere Rädelsführer. Am 1. April 1924 ergingen die Urteile: Ludendorff wurde freigesprochen, Hitler erhielt formal fünf Jahre Festungshaft, aber die Aussicht, bei guter Führung bereits nach sechs Monaten auf Bewährung freizukommen.

Die Münchner Neuesten Nachrichten, Vorgängerzeitung der SZ, dokumentierten die Urteilsbegründung auf drei Seiten. In einem namentlich nicht gezeichneten Leitartikel auf der Titelseite ordneten sie das Urteil zudem ein. In diesem Stück finden sich Passagen, die als Sympathiebekundungen für die Nationalsozialisten verstanden werden können. Unter anderem heißt es: "Wir machen keinen Hehl daraus, dass unsere menschlichen Sympathien auf Seite der Angeklagten in diesem Prozess und nicht auf Seite der Novemberverbrecher vom Jahre 1918 stehen."

Fragwürdiger Kommentar über Urteile zum Hitler-Putsch
:Sympathien für Hitler

Im April 1924 ergingen die milden Urteile gegen Adolf Hitler und Erich Ludendorff, die sich an die Macht putschen wollten. Die Münchner Neuesten Nachrichten, Vorgängerzeitung der SZ, kommentierten dies damals auf fragwürdige Weise.

Von René Hofmann

Um Transparenz herzustellen, wird hier der gesamte Text reproduziert. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde die Rechtschreibung an die aktuell geltenden Regeln angepasst. Anmerkungen zur besseren Verständlichkeit sind kenntlich gemacht.

Der am 2. April 1924 unter einer Zusammenfassung der Urteile und der Überschrift "Urteil im Hitler-Prozess" erschienene Originaltext:

"Wieder ist im deutschen Trauerspiel ein Akt zu Ende. Aber noch ist nicht die Zeit, erleichtert aufzuatmen. Ein schmerzlicher Rest bleibt zurück von den vier Wochen des großen Prozesses in der Infanterieschule. Scherben bleiben, die wir am besten in die Ecke kehren. Zu kitten ist hier nichts mehr. Neu aufbauen muss sich der Staat, neu gestalten muss sich das zerschlagene nationale Wollen, das der Führung entglitt und wie Glas flirrend am Boden zersprang.

Das Bismarcksche Reich hat uns daran gewöhnt, die Staatsautorität als solche zu achten, im Staate den Träger der Lebensnotwendigkeiten der Nation zu sehen, und seinen Befehlen, die wir Gesetze und Verordnungen heißen, Folge zu leisten. Eine gewaltsame Änderung der Staatsverfassung oder auch nur der regierenden Personen wäre im Bismarckschen Reich auf allgemeine Ablehnung gestoßen. Mit der Revolution (gemeint ist die Novemberrevolution 1918, die dazu führte, dass sich das Deutsche Reich zum Ende des Ersten Weltkrieges von einer konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch-demokratische Republik wandelte, der Weimarer Republik; Anmerkung der Redaktion) und dem Versailler Vertrag (Friedensvertrag von Versailles, geschlossen am 28. Juni 1919 zum Ende des Ersten Weltkrieges; Anmerkung der Redaktion) haben sich diese Verhältnisse geändert...

"Vollzieher der Aufträge des Feindes"

Der heutige deutsche Staat ist nicht nur deswegen ein anderer als das Bismarcksche Reich, weil er eine Republik ist. Denn das wäre staatlich gesehen von geringer Bedeutung. Der heutige deutsche Staat ist durch die Revolution und den Versailler Vertrag seiner Eigenschaft als freier und unabhängiger Staat entkleidet. Er ist nicht mehr der konzentrierte und organisierte Wille der Volksgenossen. Er ist in einschneidenden Fragen seiner Eigenschaft als freier unabhängiger Staat beraubt und vielfach geradezu Vollzieher der Aufträge des Feindes gegen das deutsche Volk geworden. Das heißt, von Aufträgen, die eingestandener- und uneingestandenermaßen den Zweck haben, die Rückkehr des deutschen Volkes zu Wehrhaftigkeit und Freiheit und damit zu seinem Wiederaufstieg zu verhindern. Regierung in Deutschland ist heute anderes, als Regierung in Deutschland vor der Revolution war und bei den Siegermächten heute noch ist. Unsere Regierung ist durch Revolution und Versailler Vertrag unfrei und legt diese Unfreiheit auch dem deutschen Volke auf. Sie ist Geschäftsführer oder - wenn man das harte Wort will - Gerichtsvollzieher der Entente (die gegen Deutschland verbündeten Mächte im Ersten Weltkrieg; Anmerkung der Redaktion), im besonderen Frankreichs, gegen uns geworden.

Und was das Schlimmste ist, es gab und gibt deutsche Regierungen, die die erzwungene Aufgabe aus parteipolitischen Gründen freiwillig durchführen - noch weiter durchführen, als es der Versailler Vertrag verlangt, weil es der Partei im Augenblick nützlich erscheint.

So hat sich bei uns der Staat des Charakters begeben, Sachwalter und Vorkämpfer der wahren Interessen der Nation zu sein. Damit ist ein Gegensatz entstanden zwischen den Lebensinteressen der deutschen Nation und den staatlichen Verpflichtungen der deutschen Republik.

Nach dem deutschen Sieg über Napoleon III. bei Sedan zerbrach das französische Kaiserreich, und es begann die französische Republik. Aber die französische Republik eines Gambetta (Léon Gambetta, einer der Gründungsväter der dritten Republik und von 1881 bis 1882 Premierminister Frankreichs; Anmerkung der Redaktion) unterscheidet sich in einem Punkte von der deutschen Republik von November 1918: Sie erstrebte nicht die Wehrlosmachung Frankreichs - im Gegenteil, sie wurde gegründet, um die nationale Verteidigung Frankreichs aufzurichten bis in das letzte Dorf hinein. Und so ergab sich in Folgerichtigkeit, dass die französische Republik ebenso gegen Deutschland wie gegen den inneren Feind, nämlich die französische Commune, focht. Die Republik in Frankreich entstand als gesteigerter Wille zur Abwehr des Feindes - die Republik in Deutschland entstand als Bereitwilligkeit zur Unterwerfung unter den Feind. Die Republik in Frankreich rettete den Staat als Träger des Lebenswillens der Nation, die Republik in Deutschland wurde zum Feind dieses Lebenswillens!

"Die Frage der Wehrhaftmachung der Nation"

Was war die Folge? Die staatlichen Aufgaben, die in Frankreich mit dem Lebenswillen der Nation zusammenhingen, wurden in Deutschland durch die Novemberrevolution 1918 in einen Gegensatz zum Lebenswillen des deutschen Volkes gedrängt. Wir schweigen hier davon, dass die deutsche Republik - wie die Rätezeit in München, die Hölzzeit in Mitteldeutschland (Max Hölz, Arbeiterführer in Sachsen, der 1920/21 Kampfgruppen um sich scharte und im Vogtland einen Aufstand initiierte; Anmerkung der Redaktion) zeigt - nicht imstande war, die oberste staatliche Aufgabe, nämlich die Sicherheit von Leben und Eigentum zu gewährleisten. Die deutsche Republik, die angeblich die deutsche Freiheit bringen sollte, hat nicht einmal die Grenzen Deutschlands gemäß dem Versailler Vertrag gegen feindliche Übergriffe schützen können. Ja, noch mehr, diese Republik hat die Sorge für den staatlichen Bestand, für die Sicherheit gegen den äußeren und inneren Feind geradezu zu einer Aufgabe der privaten Initiative gemacht. Man hat in Oberschlesien wie im Ruhrgebiet die Verteidigung der nationalen Belange den Einzelnen überlassen. Unter dem Druck der Marxisten wurden gerade die Staatsaufgaben, deren Erfüllung zweifellos der Gemeinschaft als solcher übertragen ist, an Private abgegeben. Ebenso stand es mit der Sicherung gegen die Anarchie im Innern. Auch hier hat man es der Initiative einzelner Staatsangehöriger - seien es nun die Freikorps oder Einwohnerwehren - überlassen, die wichtigste Staatsaufgabe zu übernehmen. Der Staat verzichtete auf die Grundaufgabe, die seit der Zeit, es überhaupt einen Staat gibt, oberste Pflicht des Staates gewesen ist: nämlich die Sicherung der Rechtsordnung.

Im engsten Zusammenhang damit steht die Frage der Wehrhaftmachung der Nation. Wer deutsch denkt, weiß, dass nur die Wiederherstellung der Wehrhaftigkeit uns wieder zu einem freien und selbständigen Volke machen kann. Aber selbst dieser Grundaufgabe jeglichen Staatsgebildes entzog sich die deutsche Republik durch die Unterschrift unter den Versailler Vertrag. Und so kam es, dass die Wehrhaftigkeit der Nation, nämlich die Selbstbestimmung ihres Schicksals, im Vollzug des Diktats von Versailles zu einem Konflikt zwischen Staat und Volk führte...

Wir haben schon oft in den "M.N.N." (Kurzform für Münchner Neueste Nachrichten; Anmerkung der Redaktion) darauf hingewiesen, dass das Parteiinteresse der marxistischen Berufsdemagogen die Ursache ist, warum dieser natürliche Aufgabenkreis des Staates von den marxistischen Machthabern preisgegeben wurde. Weil sie nicht den Mut haben, gegen die augenblickliche Stimmung ihrer Gefolgschaft aufzutreten, verraten die marxistischen Berufsdemagogen Volk und Staat. Und doch beherrschen sie heute das Reich noch durch die Zahl ihrer unaufgeklärten Anhängerschaft!

Wer die Zusammenhänge unseres Schicksals kennt, kann sich daher nicht wundern, wenn in den nationalen Kreisen sich aus elementarstem Gefühl heraus ein Gegensatz zu dem gegenwärtigen Staat immer mehr geltend macht. Und doch ist dieser Gegensatz falsch - und damit berühren wir die Tragödie des deutschen Volkes in der Gegenwart. Denn nicht der Einzelne, auch nicht die Organisation der Gesinnungsgenossen, sondern die Gesamtheit, nämlich der Staat, sind die Voraussetzung für die Befreiung und den Wiederaufstieg der Nation. Wir müssen einen starken Staat wieder aufbauen, weil wir sonst die letzte Möglichkeit verlieren, aus der jetzige Sklaverei herauszukommen. So hat uns der Verrat vom November 1918 bis zum Versailler Vertrag vom Juni 1919 dazu gebracht, dass wir auf dem schmalen Grenzstrich zwischen Gehorsam und Ungehorsam gegenüber dem Staate unser Leben führen müssen. Es ist daher nur zu gut zu verstehen, dass es nicht immer und nicht jedem gelingt, diese schmale Grenze, die die Notwendigkeit zum Gehorsam gegen den Staat von der Notwendigkeit zum Ungehorsam trennt, richtig zu finden. Und doch müssen wir die Art der Lebensführung lernen, die unsere politische Situation uns auferlegt. Nicht der Wille allein, nicht der Gefühlsüberschwang, sondern allein die richtige Erkenntnis der zeitgeschichtlichen Situation rechtfertigt die politische Handlung! Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns zu der Erkenntnis durchringen: Wir brauchen eine Umstellung des Geistes der Massen, die Jahre beansprucht, denn wir brauchen alle.

"Trotz ihres achtenswerten Wollens"

Wer da glaubt, durch einen einzelnen Gewaltakt in der Gegenwart diese Umstellung herbeiführen zu können, der täuscht sich über den Gang der Entwicklung. Wir machen keinen Hehl daraus, dass unsere menschlichen Sympathien auf Seite der Angeklagten in diesem Prozess und nicht auf Seite der Novemberverbrecher vom Jahre 1918 stehen. ("Novemberverbrecher" = politischer Kampfbegriff der Rechtsextremen, mit dem diese die demokratischen Revolutionäre des Jahres 1918 belegten; Anmerkung der Redaktion.) Es ist auch juristisch richtig, einen Unterschied zwischen den Männern vom November 1918 und den Männern vom November 1923 zu machen. Die Männer vom November 1918 sind Landesverräter, sie haben direkt und indirekt mit den Feinden des Deutschen Reiches zusammengearbeitet, um seine Widerstandskraft zu vernichten und dem Kriegsziel der Entente - der Niederwerfung Deutschlands - zum Erfolg zu verhelfen. Um sich von den Folgen ihres Landesverrats zu schützen, haben die Novemberverbrecher vom Jahre 1918 auch Hochverrat begangen, das heißt die Verfassung des Bismarckschen Reiches und die staatliche Ordnung umgestürzt. Ohne dies wäre es ihnen nicht gelungen, Heer und Reich so in Auflösung zu bringen, dass die von ihnen erstrebte Niederlage auch zur Auswirkung gekommen wäre. Dadurch, dass ihnen der Hochverrat glückte, haben sie sich in den Besitz der tatsächlichen Macht gesetzt und damit das Gesetz - nicht das Recht - sich untertan gemacht - derart das Gesetz wird von der Macht gesetzt -, und so haben sie mithilfe der Macht, die sie errangen, gesetzlich ihren Landesverrat für straffrei erklärt.

Für jeden Nationalempfindenden sind sie aber dabei nicht vom Landesverrat entlastet. Er haftet an ihnen und jede spätere Geschichtsschreibung wird die Machthaber vom November 1918 als Landesverräter, als Verräter am deutschen Volke und Reiche brandmarken, ohne Rücksicht darauf, dass der gelungene Hochverrat ihnen ermöglichte, sich straffrei zu machen.

Die Männer vom November 1923 haben für sich nicht den tatsächlichen Erfolg - ja, wir können nicht umhin zu sagen, was sie erstrebten, war unzeitgemäß, war vorzeitig und musste deswegen scheitern. Ob in München oder an der Nordgrenze Bayerns - ihr Versuch wäre immer totgelaufen, weil er weder die außenpolitische noch die innenpolitische Lage richtig in Rechnung stellte. Sie verkannten die nationalen Notwendigkeiten und trotz ihres achtenswerten Wollens musste das Gesetz über sie Herr werden..."

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