Münchner Spaziergang:Spuren der Nächstenliebe

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Regenbogen an den Türen, Kisten mit Geschenken und Hilfsangebote auf Zetteln - das Miteinander in Haidhausen hat viele Gesichter

Kolumne von Laura Kaufmann

„Zu Verschenken“-Kiste. (Foto: Kaufmann/oh)

Nicht nur die Viren, die den sonderbaren Ausnahmezustand verantworten, sind unsichtbar für das menschliche Auge, auch die Nächstenliebe ist es. Doch während das Virus seine Spuren in den Körpern befallener Menschen hinterlässt, malt sich die nachbarschaftliche Liebe an Türen, Fenster und Litfaßsäulen im Viertel; schon beim Verlassen des eigenen Hauses hängt da der Zettel: "Falls jemand Hilfe beim Einkaufen braucht ..."

Die Türen Haidhausens sind mit einer Galerie von Regenbogen überzogen. Fast fühlt es sich an, als würden von allen Seiten des Bordeauxplatzes die Patenkinder, Neffen und Nichten angelaufen kommen, die man derzeit selten zu Gesicht bekommt, und mit ihren selbstgemalten Bildern wedeln. An der Litfaßsäule am Johannisplatz steht: "Ruft alle an, von denen ihr denkt, dass sie einsam sind!", und es lässt sich keine paar Meter gehen, ohne auf eine "Zu Verschenken"-Kiste zu stoßen . Erstaunlich oft liegen Reiseführer darin. Von Nepal über die Türkei-Südküste, von Neuseeland bis Vietnam - die Nachbarn helfen beim Träumen weit ab der üblichen Spazierrouten. Wer träumt, ist frei. Oder aber sind die Reiseführer alt und nur bedingt brauchbar? Solchen Argwohn weckt der Fund des Buches "Maschinenschreiben leicht gemacht". Vielleicht möchte der Nachbar aber nur helfen, den Grundstock zu einem Antiquariat zu legen, falls das Auskommen krisenbedroht ist.

Richtung Ostbahnhof hat der Kaufring seine Schaufensterauslage mit Plastikplanen verhüllt: "Diese Schaufenster sind zur Zeit unwichtig. Es gibt nichts zu schauen!", steht da. Also zurück Richtung Bordeauxplatz, wo am Tage zögerlich das Frühlingsleben aufblüht, ein Golfer, der unermüdlich seinen Schwung übt, ein Papa, der für seine Söhne einen Parkour aufbaut und eine Lesende zwischen den Tulpen. Auf dem Seitenstreifen liegt ein ausrangiertes Waschbecken. Als wolle jemand stumm protestieren: Jetzt habe ich mir, verdammt noch mal, wirklich oft genug die Hände gewaschen!

© SZ vom 23.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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