Vorwürfe gegen Betreuerinnen:Ein Armutszeugnis für das SOS-Kinderdorf

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Unbeschwert spielen? Es gibt Zweifel, ob das in jüngster Zeit in jedem SOS-Kinderdorf möglich war. (Foto: Corinna Guthknecht)

Der Verein nimmt Millionen an Spenden ein und will Mädchen und Jungen aus prekären Verhältnissen eine gute Zukunft schenken. Doch die Berichte ehemaliger SOS-Kinder sind alarmierend.

Kommentar von Bernd Kastner

Wir schreiben das Jahr 2021. Elf Jahre sind vergangen, seit in der katholischen Kirche der Missbrauchsskandal in seinem ganzen Ausmaß ans Licht kam. Elf Jahre, in denen die Kirche viel Kritik einstecken musste für ihre zögerliche Aufarbeitung des Unrechts. Plötzlich steht ein neuer Akteur im Scheinwerferlicht, der sich selbst des Versagens bezichtigt, und man stellt fest: Ja, die Kirche agiert langsam, aber andere sind noch langsamer. Zum Beispiel der Verein SOS-Kinderdorf.

Ehemals Betreute erheben schwere Vorwürfe gegen zwei Mitarbeiterinnen, SOS hat die Anschuldigungen selbst publik gemacht und dabei systemische Mängel im Kinderschutz eingeräumt. Eine der beschuldigten Kinderdorfmütter weist die Vorwürfe zurück. Dass die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist wichtig und gut, für alle Beteiligten.

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So alarmierend die aktuellen Berichte von ehemaligen SOS-Kindern sind, so erschreckend ist, was nebenbei in den Blick kommt: eine vereinsinterne Untersuchung aus dem Jahr 2010. Damals fragte SOS ganz oberflächlich unter seinen Führungsleuten ab, was sie über Misshandlung und Missbrauch in früheren Jahrzehnten wissen. Daraufhin wurden grenzverletzende "Erziehungs"-Methoden benannt, und auch dies: Die einst Verantwortlichen haben viel getan, um solche Geschehnisse unter der Decke zu halten, im "inner circle" zu lassen, auch, um das glänzende SOS-Image sauber zu halten. Und was tut der Verein mit diesem Bericht, der vom Verschweigen von Unrecht handelt? Nimmt er ihn als Anlass für weitere Untersuchungen? Nein, er legt ihn in die Schublade und macht diese zu. Systematische Aufarbeitung von psychischer, körperlicher und auch sexualisierter Gewalt? Bisher nicht bei SOS.

Das ist ein Armutszeugnis für diesen Verein, der den Anspruch hat, Kindern aus prekären Verhältnissen eine gute Zukunft zu schenken. Der aufgrund seiner Idee der Kinderdörfer und der Leistung vieler Frauen und Männer einen so guten Ruf hat, dass er jedes Jahr viele Millionen Euro an Spenden einsammelt. Um die so wichtige Arbeit für Kinder nicht zu gefährden, muss SOS-Kinderdorf schnell tun, was der Missbrauchsexperte Heiner Keupp empfiehlt: Eine unabhängige Kommission einsetzen und die Vergangenheit gründlich aufklären und aufarbeiten. Dass SOS-Kinderdorf im Jahr 2021 einen solchen Rat braucht, sagt viel über die bisherigen Versäumnisse.

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Einer Untersuchung zufolge soll in zwei SOS-Häusern ein Klima der Angst geherrscht haben. Eine der ehemaligen Mitarbeiterinnen widerspricht nun. Klar ist: Über Jahrzehnte hat der Verein versucht, Missstände in vielen Einrichtungen unter der Decke zu halten.

Von Bernd Kastner

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