Geschichte:Die schrägen Toten von Freiham

Lesezeit: 4 min

Womöglich älter als zunächst vermutet: Die Toten schauen nach Westen, in Richtung der untergehenden Sonne. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Archäologen legen Skelette und ein Gefäß frei, die in ungewöhnlichen Gräbern liegen. Es sind die neuesten der insgesamt schon 11 500 Funde, die die 4500 Jahre alte Siedlungsgeschichte im Münchner Westen dokumentieren.

Von Ellen Draxel

Das Kugelgefäß als Grabbeigabe lagert direkt neben dem Schädel. Der Kopf wirkt etwas eingefallen, auch die Finger und Handknochen sind porös. Ansonsten ist das Skelett gut erhalten, sogar die gefalteten Hände über dem Becken sind noch zu erkennen. Im Nachbargrab ist der Körper weniger gut intakt, dafür blitzen die Zähne aus dem Unterkiefer. Patricia Costache ist begeistert. Lediglich die einzelne Beigabe sieht die Ausgrabungsleiterin als "Problemchen". Denn wenige Vergleichsfunde machen die Datierung schwieriger.

Costache und ihr Team von der Archäologie-Grabungsfirma Farch haben begonnen, zwei Gräber in Freiham freizulegen. Wenige Meter von der Autobahnauffahrt entfernt, 20 Zentimeter unter dem Boden im Münchner Kies versteckt. Ein außergewöhnlicher Fund, denn Skelette findet man bei Ausgrabungen eher selten. Nur eines von 600 Artefakten ist ein Grab. Drei Tage lang ist denn auch nicht klar, welche Geschlechter da bestattet wurden und wann, und was die Todesursache war. Das herauszufinden, obliegt den Anthropologen - und die kommen erst, wenn die Ausgrabung beendet ist. Am Mittwochabend aber weiß man: Einer der beiden Menschen war ein Mann und die andere Person jugendlich.

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Und noch etwas steht fest: Die Ausrichtung der Gräber ist für die Spätantike, der man sie anfangs zuordnete, untypisch. Denn Verstorbene aus dieser Periode schauen nach Osten, Richtung aufgehende Sonne. Diese Toten lägen also quasi verkehrt herum - und dazu noch ein wenig schräg. Möglich deshalb, dass die Gräber älter sind als gedacht. Und eher römisch als christlich.

Funde von der Steinzeit über die Bronze- und Eisenzeit bis zur Spätantike

Kommunalreferentin Kristina Frank (CSU) ist an diesem Mittwoch zum ersten Mal bei einer Ausgrabung dabei. Sie fühlt sich ein bisschen wie Indiana Jones: In Freiham zu graben, sagt sie, sei wie "eine Art Schatztruhe, die man aufmacht". Eine Schatztruhe, die Einblicke in die Vergangenheit gewährt. Die von den Menschen erzählt, die hier einmal gelebt und gearbeitet haben. Die Rückschlüsse auf deren Kultur, ihre Sitten und Gebräuche zulässt.

Freiham, das weiß man inzwischen, ist kein neuer Siedlungsort. Am heute westlichsten Rand Münchens, wo die Häuser derzeit nur so aus dem Boden schießen und in 15 bis 20 Jahren an die 30 000 Menschen wohnen werden, haben eigentlich immer Siedler gelebt. Seit 2005 wird auf der 126 Hektar großen Fläche zwischen der Bodenseestraße, dem Aubinger Friedhof und dem Autobahnring der A 99 nahezu ununterbrochen nach historisch wertvollen Entdeckungen unter der Erde gesucht.

Die Lage des Grabes und des darin enthaltenen Kugelgefäßes werden exakt dokumentiert. (Foto: Alessandra Schellnegger)

In dieser Dimension ist das deutschlandweit eine Besonderheit. Rund 11 500 archäologische Funde konnten bei den fast 40 Ausgrabungen in 17 Jahren bereits zutage gefördert werden - eine Dokumentation der 4500 Jahre alten Geschichte der Gegend. "Die Archäologen haben Funde von der Steinzeit über die Bronze- und Eisenzeit bis zur Spätantike gemacht, das ist sehr selten und zeigt die Siedlungskontinuität", so die Kommunalreferentin. Kostenpunkt für die Stadt seit Beginn der Grabungen: drei Millionen Euro - nur für öffentliche und städtische Flächen in Freiham.

Spektakuläres haben die Wissenschaftler dabei immer wieder freigelegt. Vor einigen Jahren fanden sie einen spät-römischen Friedhof mit 20 Gräbern. Besonders aufschlussreich waren dabei die Grabbeigaben: Zwei Gewandnadeln, eine aufwendig römisch gefertigt, die andere einfacher germanisch kreiert. Ein Hinweis auf einen Übergang zur christlich-bajuwarischen Bestattung. Auch Einzelgräber aus der Glockenbecher-Zeit um 2000 vor Christus haben die Wissenschaftler schon entdeckt.

"Das Tolle an diesem großen Ausgrabungsort aber sind vor allem die zahlreichen Fundorte", sagt Petra Kohler, die in München die archäologischen Arbeiten koordiniert. "Denn Archäologie braucht den Vergleich." Um zu wissen, was typisch für eine Epoche sei, wo Handel stattgefunden habe und Häuser errichtet wurden, seien "sehr viele" aussagekräftige Funde wichtig. Jede Grabung ist für Kohler daher auch eine "Konservierung der Bodendenkmäler in dokumentarischer Form".

Rechtecke, die an einen römischen Tempel erinnern

Freiham, erklärt die Forscherin, blieb als Siedlungsgebiet deshalb stets attraktiv, weil der Boden fruchtbar war, man dank eines niedrigen Grundwasserspiegels und Bachläufen gut an Wasser herankam, und das Klima weder zu heiß noch zu kalt war. Verständlich, dass die Archäologen bereits jede Menge Brunnen fanden. Und zusätzlich dunkle "Pfostenlöcher", in denen früher Holzpfosten von Häusern verankert waren. "Wir haben Hinweise auf Firstpfosten aus der frühen Bronzezeit um 2200 vor Christus ausgegraben - und 25 Meter weiter andere, die auf Gebäude aus der Hallstattzeit 600 Jahre später hindeuten."

Die Forscher sind sich auch sicher, Dokumente für einen Bau aus der späten Eisenzeit, der La-Tène-Zeit, gefunden zu haben: zwei Rechtecke, die an einen römischen Tempel erinnern, nur eben aus Holz statt aus Stein errichtet. Die Siedlungen, erläutert Petra Kohler, seien vermutlich lediglich ein oder zwei Generationen genutzt worden, um dann, als die Felder drumherum ausgelaugt waren, ein paar Meter weiterzuwandern. Auf diese Weise überlagerten sich Siedlungen aus verschiedenen Epochen in Freiham. Dass das damals "keine windschiefen Hütten" waren, sondern stabile Gebäude, gebaut von Leuten mit viel Schreiner-Erfahrung, davon sei auszugehen. "Sonst hätten die Menschen das nicht so lange gemacht." Nachzuweisen sind bis heute zudem alle möglichen Formen von Öfen, außerdem Darren zum Trocknen und Räuchern von Fleisch, Getreide und Obst.

Mit Pinsel, Spatel und anderen Werkzeugen wurden in Freiham schon 11 500 Funde freigelegt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Gräber und Urnenfelder bezeugen, wann die Menschen in der Gegend gelebt haben, je nachdem, wie sie bestattet wurden. In der Frühbronzezeit bettete man die Toten auf die Seite mit angezogenen Beinen, in der späten Bronzezeit verbrannte man sie. Verstorbene aus der Eisenzeit dagegen liegen auf dem Rücken. Man fand bei den Gräbern und den Häusern außerdem Bronze-Halsringe, Knochenkämme, Schmuck, Spangen, kleine Perlen sowie Töpfe und alle möglichen Arten von Werkzeugen aus Stein und Metall.

Dass im Boden überhaupt archäologisch wertvolle Hinweise oder Funde versteckt sein könnten, erkennen die Profis an der Bodenbeschaffenheit. "Dunkle, batzige Flecken ohne Form sind in der Regel einfach geologisch bedingte Senken", erklärt Ausgrabungsleiterin Costache. Strukturierte, dunkle Bereiche mit lockerer Konsistenz dagegen deuten auf mögliche Ausgrabungsorte hin. An diesen Stellen wird dann geschaufelt, mit der Kelle geschabt und zum Schluss die Erde vorsichtig weggepinselt. "Gräber sind einfach zu erkennen", weiß Kohler. "Denn die haben einfach Menschengröße." Die vor wenigen Tagen entdeckten Skelette und das Kugelgefäß kommen, sind sie erst einmal ausreichend erforscht, in die Anthropologische Staatssammlung.

Welche Bodendenkmäler in Freiham bislang gefunden worden, zeigt derzeit eine Outdoor-Ausstellung auf dem Grundstück der Erzdiözese München und Freising an der Ecke Wiesentfelser und Albert-Camus-Straße.

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