Leopoldstraße:Ois anders

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Im Bereich von Ampeln fühlen sich Fußgängerinnen und Fußgänger in München besonders sicher. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Hässliche Stände, grelle Schirme: Die Leopoldstraße sei nicht mehr die Flaniermeile von einst, klagen Lokalpolitiker. Stimmt das wirklich? Ein Spaziergang.

Von Karl Forster

Der Leopoldstraße fehlt - auf den ersten Blick - das Wichtigste: ein Anfang. Wer nach der Hausnummer 1 sucht, findet nichts. Erst eine tiefere Recherche löst das Rätsel: Als Nummer 1 gilt das Siegestor, jenes Bauwerk mit der berühmten Inschrift "Dem Sieg geweiht - Vom Krieg zerstört - Zum Frieden mahnend". Immerhin.

Doch auch eine Nummer 2 findet sich nicht. Stadtauswärts auf der rechten Seite startet die "Leo", wie sie von Alteingesessenen liebevoll genannt wird, mit der Nummer "4", einem klassizistischen Monsterbau, in dem eine Patentanwalts-Sozietät von beachtlicher Dimension residiert. Gegenüber, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Akademie der Bildenden Künste, wohnt im Haus Nummer 3 das Hochschulpräsidium der Ludwig-Maximilians-Universität, benachbart von Tropenmedizin und Experimenteller Parasitologie ihrer Tierärztlichen Fakultät. Das ist der unspektakuläre Beginn von Münchens "berühmtester Flaniermeile", wie die SPD des Bezirksausschusses Schwabing-Freimann die Leopoldstraße in einem Stadtratsantrag rühmt.

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Doch dies ist ein vergiftetes Lob. Denn der Grund für das Schreiben an die "LH München, Direktorium HA II" liegt darin, dass die Leopoldstraße nach Meinung der Schwabinger Genossen den Ehrentitel als "berühmteste Flaniermeile" nicht mehr verdiene. Es solle deswegen bitteschön der Stadtrat eingreifen, um den ursprünglichen Zustand dieser Straße wiederherzustellen. Da werden die Genossen radikal: Und fordern, dass die Beschränkungen für "Obst, Blumen, Presseerzeugnisse, Postkarten, Bücher, Kunsthandwerk" wieder eingeführt werden. Außerdem, so die Klage, verschandelten auch Litfaßsäulen und "Sonnenschirme in grellen Farben mit aufdringlicher Werbung" das Straßenbild. Auch stellten die Obst- und Gemüsestände "ohne die Warenauslagen", also nächtens, "einfach nur hässliche Bauwerke im öffentlichen Raum dar". Es bedürfe einer "strengen Regulierung", wie sie "in italienischen Städten selbstverständlich" sei.

Unabhängig von der Frage, ob die SPD derzeit nicht andere Sorgen plagen, zeigt eine Wanderung durch die Leopoldstraße von heute, dass einerseits die Erkenntnis, vieles sei nicht mehr ganz so wie früher, nicht falsch ist, dass aber andererseits an der Veränderung der Leopoldstraße weder Litfaßsäulen noch Obststände und schon gar nicht Sonnenschirme schuld sind. Die "Leo" ist, wie so vieles in der Stadt, einfach Opfer der Läufte der Zeit. Man trifft bei dieser Wanderung Menschen, die schon lange an und von der Leopoldstraße leben und trotzdem von den Restaurationsgedanken der SPD wenig begeistert sind. Und die zum Teil ganz andere, revolutionäre Pläne empfehlen würden. Dazu später mehr.

Sie ist immer noch eine mächtige und eindrucksvolle Pappelallee, auch wenn sie ihre Funktion als Flirtzentrum und Aufrissmeile längst verloren hat. Doch ihr abzusprechen, es mache keine Freude mehr, auf ihr entlang zu spazieren, ist ungerecht. Zwar war und ist die "Leo" (so heißt sie nur bis zur Münchner Freiheit, der lange Rest bis zur Domagkstraße ist eines Kosenamens nicht mehr würdig) keine architektonische Vorzeigemeile, zu viel wurde im Krieg zerstört. Die für sie typische Lebenslust aber spürt man immer noch, zumindest ein bisschen.

Wo man früher mit dem Cabrio vors Cafè vorfuhr, logieren heute Notare

Schon ganz am Anfang, wo auf der schattigeren Westseite die elegante Terrasse der Bar Giornale "Verweile doch!" ruft, auch wenn daneben ganz unelegant eine Spiel- und Wetthalle ins Anonyme lockt. Im Nachbarhaus verspricht dann das Ivan's, einer von Tausend Münchner Italienern, aber einer mit Tegernseer Hell, dolce far niente.

Im fast vollverglasten Bau eins weiter arbeitet Schwabings Jeunesse dorée jeglichen Geschlechts gut von außen sichtbar im Leo's Sports Club an Bauch und Po für den Fall, dass das abendliche Speed Dating erfolgreich verläuft; eine jener modernen Formen der Kontaktaufnahme also, die der "Leo" viel von ihrer einstigen Klientel und ihrem Charme als Anbandlmeile geraubt haben. Man fährt halt nicht mehr im Cabrio vors Café, um den Beifahrersitz besetzt zu bekommen.

Dass ein Stockwerk über der prominenten Schwitzanstalt Notare teure Verträge beurkunden, passt an den Ort und in die Jetztzeit, da die Explosion von Münchens Immobilienpreisen auch die Leopoldstraße prägt. So findet man im Netz beispielsweise ein Zwei-Zimmer-Business-Appartement mit 52 Quadratmetern für 4490 Euro im Monat; das kann eigentlich nur einem Schreibfehler geschuldet sein. Aber ein 30-Quadratmeter-Zimmer für 1350 Euro ist auch nicht gerade günstig.

Was Wunder, dass in der Leopoldstraße und ihrer Nachbarschaft manche Kneipe dicht gemacht hat und vor allem kaum mehr Musik erklingt. Vom legendären Rockschuppen Big Apple, in dem einst Jimi Hendrix gastierte, über die Crackerbox, einem einstigen Lieblingsschuppen der Amis dort, wo heute das Schwabinger Tor steht, bis zum Yellow Submarine, einer von FFB bis EBE beliebten Disco mit echten Haifischen im Wandaquarium: Das Tanzvergnügen wurde den Wirten schon vor Jahren zu teuer. Und wo das Domicile mit Rock und Jazz bis in die Achtzigerjahre residierte, lockt heute (schon wieder) ein Wettbüro, diesmal eines mit Herz für Tiere: "Hunde willkommen" verspricht ein Schild. Musiziert aber wird anderswo, von Giesing (Anton's) über die Innenstadt (Bar Gabányi) bis Neuhausen (Hide Out).

Wenn das Geschäft mit Immobilien die gewachsene Infrastruktur der "Leo" ausdörrt und die Menschen vertreibt, wird's für jene, die von diesen Menschen leben, schwierig. Zwar nicht für den Discounter, der in die einstige Bankfiliale Ecke Franz-Joseph-Straße eingezogen ist. Lidl lebt von Kundschaft wie der jungen Frau, die eben ihren viele hundert PS starken Macan aus Zuffenhausen vor dem Haus geparkt hat. Auch nicht der Bachmaier Hofbräu schräg gegenüber; er lockt mit der Rubrik "Wirtshaus, Bar, Gaudi" und dezent blauen Sonnenschirmen (Achtung, SPD!) vornehmlich Touristen, die den Versprechungen hundert gedruckter Stadtführer glauben, die Leopoldstraße sei eben immer noch eine super Flaniermeile.

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Im Antrag der SPD ist die Rede von Menschen wie Markus Schmalzviel, der nahe dem Schweinchenbau der LMU (selten trug, angesichts der Farbe, ein Gebäude einen trefflicheren Spitznamen) beidseits des Fußgängerstreifens seine Bilder, Bücher und CDs verkauft. Von wegen Flaniermeile! Er schimpft auf die halsbrecherisch nah vorbeidüsenden Radler und E-Scooteristen. Und auf die achtlos eilenden Fußgänger, die weder Zeit noch Sinn hätten, um in seinem Angebot herumzuschnuppern. Und er verdammt den "monstermäßigen Verkehr", der nur dann erträglicher werde, wenn endlich mal Stau ist. Sein Vorschlag ist so radikal wie längst erprobt: "Die sollen die Leopoldstraße einfach zur Fußgängerzone machen!" Wie? Einfach dicht machen? "Ja, natürlich. Beim Corso Leopold geht das doch auch." Stimmt. "Aber da geht es halt nur, weil das ein Riesengeschäft geworden ist. Das ist nur noch reiner Kommerz." Schmalzviels Fazit: Nur wo Geld regiert, wird Unmögliches möglich. Aber eine Anregung wär's allemal.

Die Rede ist dann auch von Obst- und Gemüsehändlern wie Hans-Joachim Richter, die der Leopoldstraße mit frischer Ware (wunderbare Reherl, 100 Gramm für 2,90 Euro) einen Rest von Lebensart und Wohnlichkeit geben. Der gebürtige Münchner und stolze BVB-Fan mit schwarzgelbem Uhrenarmband hat seinen Stand an der Ecke zur Herzogstraße und hält die Idee, diesen jede Nacht wieder abbauen zu müssen, für weltfremd. "Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass wir über Nacht stehen bleiben dürfen. Anders könnte ich mich gar nicht organisieren." Um 4 Uhr morgens die Ware aus der Großmarkthalle holen und dann noch den Stand jedes Mal aufbauen? "Das wäre nackter Irrsinn."

Standbesitzer Hans-Joachim Ritter hält die Forderung nach strengeren Regeln für "nackten Irrsinn". (Foto: Alessandra Schellnegger)

Gegenüber steht eine Litfaßsäule, wie sie die SPD als Verschandelung brandmarkt. Eine Säule voller Lebensfreude: mit Plakaten aus dem gesamten Münchner Kulturleben, von der Oper über die Philharmonie bis zum nächsten Tollwood-Festival. Und so etwas "zieht das Stadtbild der gesamten Straße herunter"? Ein paar hundert Meter weiter hört die Leopoldstraße auf, die "Leo" zu sein. Da wird sie eine normale Münchner Straße. Gegenüber von Richters Obststand, unter den Bäumen der Münchner Freiheit, grübeln die Freiluftschachspieler über den nächsten Zug, offeriert der Imbiss My Indigo eine "Feel Good Soup" und bietet das Leopoldkino wie immer gutes Programm.

Auf dem Weg zurück Richtung Siegestor dann plötzlich ein kurzes, aber heftiges Aufblitzen einer Erinnerung an die Leopoldstraße von einst, wie sie Helmut Dietl in seinen "Münchner Geschichten" für die Nachwelt gezeichnet hat. Dem großen Münchenversteher soll endlich ein Denkmal gesetzt werden, an der Münchner Freiheit, neben seinem Monaco Franze und natürlich mit einer Gitanes zwischen den Fingern. Auf der Speisekarte vom Wirtshaus Zur Brez'n, das sich als "Stern der Gastlichkeit" versteht, heißt der Teller mit drei Fleischpflanzerl mit Kartoffel-Gurkensalat "Tscharlie".

So wie Dietls erster großer Held, der in Gestalt von Günther Maria Halmer einst hoch zu Ross durchs Siegestor ritt. Aber schon damals, vor fast 50 Jahren, war die Welt in München nicht mehr ganz in Ordnung. Wer wissen will, warum, soll sich die Folge "Ois anders" auf Youtube anschauen. Die "Tscharlie"-Fleischpflanzerl übrigens kosten 11,90 Euro. Für die Leopoldstraße eher günstig.

© SZ vom 23.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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