Kritik:Psychogramm mit Pogo

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Die Diskursrock-Band "Tocotronic" bringt ihr famoses Frühwerk auf die Sommerbühne im Münchner Olympiastadion. Das ist reflektiert und tanzbar zugleich.

Von Martin Pfnür, München

Dirk von Lowtzow, seit 28 Jahren Sänger, Texter und Gitarrist der großen Indie- und Diskursrock-Band Tocotronic, ist auf der Bühne von ebenso serviceorientiertem wie charmant ironischem Wesen. Im Stile eines Revue-Moderators wärmt er die Zuschauer im klammgeregneten Olympiastadion mit Anekdoten und zeitlichen Einsortierungen, preist das steinalte "Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit" augenzwinkernd als einen der besten Songs aller Zeiten, oder stellt den Bassisten Jan Müller als einen Adonis, "schöner als das Bildnis des Dorian Gray" vor. Man werde sich nun chronologisch durch die ersten sechs Alben spielen, erklärt er eingangs, "danach kann dann, wer mag, ein schönes Psychogramm erstellen".

Tatsächlich ist die Idee mit dem Psychogramm in Bezug auf die frühen Tocotronic gar nicht so abwegig. Trug doch kaum je eine deutsche Band ihr Herz so auf der Zunge wie jenes seitengescheitelte Trio im Vintage-Look, das 1993 in Hamburg zusammenfand. Teenage Angst, Coming-of-Age-Romantik, gelebtes Außenseitertum und eine ebenso biografisch geförderte wie an Thomas Bernhard geschulte Form der Misanthropie gegenüber Spießbürgern, Fantasten oder Kleinkünstlern flossen da ungefiltert in Drei-Akkord-Songs zusammen, deren galliger Impetus bis heute seinesgleichen sucht.

Ein musealer Spaß, den man lieber in einem Club erlebt hätte

Entsprechend rumpelt und scheppert es anfangs derart roh von der Bühne herüber, dass sich manch einer der pandemiegerecht Verteilten sogleich zum versunkenen Solo-Pogo erhebt. Zwar wirkt das eher museal als rebellisch, wenn der graumelierte von Lowtzow in "Freiburg" schwarzwaldhöllische Einblicke in sein Seelenleben als junger Mann im Badischen gewährt, oder Michael Ende ob dessen Fantasy-Eskapismus dafür geißelt, sein Leben zerstört zu haben - Spaß macht es trotzdem, auch wenn man diese kathartischen Knüppeleien lieber in der Enge eines Konzertclubs erlebt hätte.

Die eigentliche Magie des Abends liegt indes eher im präzise veranschaulichten Aufbruch der Band zu elaborierteren rockmusikalischen Formen und zur sprachlichen Abstraktion. So geht es über die entenquakige Mundharmonika von "Sie wollen uns erzählen" und das grandios ausgewalzte "Nach Bahrenfeld im Bus" schließlich tief hinein in das wohl beste Tocotronic-Album "K.O.O.K.", das von einer gelassenen Form der Erschöpfung kündet und mit Songs wie "Jenseits des Kanals" auch den 2004 zur Band gestoßenen US-Gitarristen Rick McPhail solistisch glänzen lässt. Am Ende, als sich zur Zugabe der Großteil des Publikums tanzend erhoben hat, steht die tocotronische Pop-Werdung in Form des Weißen Albums und eine Erkenntnis, die Dirk von Lowtzow in "Neues vom Trickser" wie eine Zauberformel wiederholt: "Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei".

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