Projekt "Rückkehr der Namen":Gesicht zeigen für die Verfolgten des NS-Regimes

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Ein Foto aus dem Reisepass von Elisabeth Adler. Sie wurde mit sechs Jahren von den Nationalsozialisten getötet. (Foto: Stadtarchiv München)

Eine Sechsjährige wird deportiert und erschossen. Ein Zwangsarbeiter stirbt nach Folter an einer Lungenblutung. Das BR-Projekt "Rückkehr der Namen" will an Nazi-Opfer erinnern - unter Beteiligung der Münchner.

Von Barbara Galaktionow

Da ist zum Beispiel Elisabeth Adler. Sie wurde 1935 in München geboren. Mit ihren Eltern Anna und Paul Adler, einem Rechtsanwalt, lebte sie in Schwabing an der Biedersteiner Straße 7, ein älterer Bruder war bereits vor ihrer Geburt gestorben. Im November 1941 wurde Elisabeth Adler mit ihren Eltern von den Nationalsozialisten nach Kaunas in Litauen deportiert. Dort wurde das jüdische Kind mit seinen Verwandten und zahlreichen anderen Menschen von einem Einsatzkommando unter Leitung der SS erschossen. Elisabeth Adler wurde gerade einmal sechs Jahre alt.

Sie war eine von etwa 12 000 in München lebenden Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern, welche die Verfolgung durch den NS-Staat zwischen 1933 und 1945 das Leben kostete. Und drei von Tausend, denen nun das Erinnerungsprojekt "Rückkehr der Namen" des Bayerischen Rundfunks (BR) gewidmet ist, das am Mittwoch vorgestellt wurde. Es ist in Zusammenarbeit mit der Stadt und gemeinsam mit mehr als Tausend Münchnerinnen und Münchnern entstanden. Als Patinnen und Paten werden diese sich am Nachmittag des 11. April von 15 Uhr an mit Plakaten der NS-Opfer an Orten in der Stadt aufstellen, an denen die Verfolgten lebten oder wirkten.

Indem heutige Münchner für die Opfer "Gesicht zeigen", soll an die Menschen erinnert und zugleich die Verbindung zur Gegenwart hergestellt werden, wie Andreas Bönte erläutert. Er ist Initiator des Projekts und stellvertretender BR-Programmdirektor. Denn - das sei ihm wichtig - man dürfe nicht bei der Erinnerung haltmachen. Er hofft, dass die Paten den NS-Verfolgten durch die Beschäftigung mit den Biografien näherkommen. Dabei soll auch deutlich werden, wie den Menschen ihr normales Leben durch die Nationalsozialisten Stück für Stück genommen wurde. "Die Menschen sind nicht als Opfer auf die Welt gekommen. Sie sind zu Opfern gemacht worden", sagt Bönte.

80 Organisationen und Einrichtungen, darunter jüdische Verbände, Behinderteneinrichtungen und zwölf Schulen, sind in das Projekt eingebunden. 600 Patenschaften wurden über diese Institutionen vergeben, 400 haben Privatpersonen übernommen.

Einen ersten Einblick in die Lebensgeschichten bieten Kurzbiografien der Tausend vom NS-Staat verfolgten Menschen, die der BR in einer Web-App zusammengestellt hat. Da bayerische Partnerstädte eingebunden waren, finden sich hier insgesamt sogar 1071 Namen. Sie basieren auf jahrelangen Recherchen des städtischen Bereichs "Public History" und wurden von BR-Mitarbeitern in enger Zusammenarbeit mit diesem aufbereitet. Ein Blick in die Kurzdarstellungen offenbart auf jeweils nur wenigen Zeilen die grausamen Folgen, die das NS-System für viele Menschen hatte. Menschen, die aufgrund ihrer Zuschreibung zu vermeintlichen Rassen, ihrer politischen Haltung, sexuellen Orientierung, körperlicher und geistiger Behinderungen oder auch aufgrund ihres Lebenswandels - was immer das heißen mochte - der Verfolgung preisgegeben waren.

Über manche NS-Opfer sind weitergehende Informationen leicht zu finden. Das gilt vor allem für viele Menschen, die im Widerstand aktiv waren. Etwa 50 werden im Projekt genannt, darunter die Mitglieder der Weißen Rose oder der Schreiner Georg Elser, aber auch die Namen von weniger bekannten Menschen.

Emma Hutzelmann ist eine von etwa 50 Menschen aus dem Widerstand gegen das NS-Regime, an die das BR-Projekt "Rückkehr der Namen" erinnern will. (Foto: Foto: Privat)

Zu diesen gehören Emma Hutzelmann und ihr Mann Hans. Beide waren Mitglieder der Widerstandsgruppe "Antinazistische Deutsche Volksfront", die sich mit anderen Gruppen zusammenschließen und einen politischen Umsturz herbeiführen wollte. In Erzählungen habe er gehört, sein Großvater sei "ein besonders liebenswürdiger Mann" gewesen, schreibt ihr Enkel Peter Hutzelmann in einer Darstellung für die Stadt München. Und Fotos zeigten Emma Hutzelmann als "lebhafte, lebenslustige und fröhliche Frau". Die im Jahr 1900 geborene Emma Hutzelmann arbeitete demnach als Buchhalterin in der Fettfabrik Saumweber. Sie tauschte gestohlene Fette gegen Nahrung und Waffen, um sowjetische Kriegsgefangene zu unterstützen, und half zwei von ihnen bei der Flucht. Die Widerstandsgruppe flog auf, das Ehepaar Hutzelmann kam in Haft. Emma gelang die Flucht, doch kam sie in ihrem Versteck im November 1944 bei einem Luftangriff ums Leben. Hans wurde im Januar 1945 im Alter von 38 Jahren durch das Fallbeil hingerichtet.

Dem Ehepaar Hutzelmann wird beim BR-Projekt unweit des ehemaligen Gestapo-Gefängnisses an der Brienner Straße 18 gedacht und nicht an ihrem Wohnort an der Margaretenstraße in Sendling. Denn wie auf der Web-App des BR zu sehen ist, befinden sich die Gedenkorte am 11. April relativ konzentriert im erweiterten Innenstadtbereich zwischen Schwabing und der Au, Neuhausen und dem Lehel. In diesen Stadtbezirken sei mit einem "gewissen Publikumsverkehr" zu rechnen, sagt Projektleiter Bönte. Zudem könnten die Paten von hier aus einen geplanten "Weg der Erinnerung" vom Königsplatz zum Odeonsplatz gut erreichen. Der ist am 11. April im Anschluss von 17 Uhr an geplant.

Der junge Niederländer Dirk Koedoot musste als Zwangsarbeiter in München schuften. Auch an ihn erinnert das "Rückkehr der Namen"-Projekt. (Foto: Foto: Privat)

An der Thalkirchner Straße 54 in der Isarvorstadt hatte früher das Arbeitsamt seinen Sitz. Dort werden einige Paten von Angehörigen einer anderen Gruppe stehen, die ebenfalls schwer unter den Nationalsozialisten zu leiden hatte: die ausländischen Zwangsarbeiter. Einer von ihnen war Dirk Koedoot. Der Niederländer wurde 1943 kurz nach seinem 18. Geburtstag aus Rotterdam zum Arbeitseinsatz nach München verschleppt. Hier musste der gelernte Bäcker zunächst in einer Bäckerei arbeiten. Wie ein Neffe Koedoots in einem Beitrag für die Stadt München schrieb, ging es ihm dort wohl "den Umständen entsprechend gut".

Trotzdem hielt es Koedoot, der seinem Neffen zufolge "eher hitzig und temperamentvoll" war, dort nicht aus. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wurde er in das Arbeitserziehungslager München-Moosach zur Zwangsarbeit eingeliefert. Dort soll Koedoot gefoltert worden sein. Dem Bericht eines Mitgefangenen zufolge habe er unter anderem 24 Stunden lang in kaltem Wasser stehen müssen. Wohl infolge der Misshandlungen im Lager starb er im Oktober 1943 in einem Hospital an einer Lungenblutung. Über das Schicksal anderer Kriegsgefangener, gerade aus der Sowjetunion, ist weitaus weniger bekannt als über Koedoot.

Verfolgt wurden auch Menschen, deren Lebenswandel den Nazis nicht passte

Auch über andere Verfolgte ist oft nicht sehr viel bekannt, vielfach liegt der Stadt nicht einmal ein Foto vor. Das gilt insbesondere bei der Gruppe der Sinti und Roma und einer anderen Gruppe, die allein per NS-Definition überhaupt als solche geschaffen wurde: die sogenannten Asozialen oder auch "Gesellschaftsfremden". Das konnten Menschen sein, deren wie auch immer gearteter Lebenswandel den Nationalsozialisten nicht passte, oder die wegen kleinerer Straftaten vollkommen entrechtet und drakonisch bestraft wurden.

So wie Dora Vahle. Sie wurde 1914 geboren, war verheiratet, arbeitete als Kontoristin und wohnte an der Goethestraße 7. Weil sie am Münchner Hauptbahnhof mehrfach Koffer und anderes Reisegepäck gestohlen hatte, verurteilte das Sondergericht München sie zum Tode. Am 25. September 1944 wurde sie von den Nationalsozialisten hingerichtet - nur wenige Tage vor ihrem 30. Geburtstag und nur wenige Monate, bevor die NS-Herrschaft mit dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg ihr Ende fand.

Warum wird nun bei dem Projekt all dieser Menschen gerade am 11. April gedacht? Das hat Bönte zufolge einerseits organisatorische Gründe im Zeitplan der Stadt. Andererseits soll es auch auf die Alltäglichkeit der Verfolgung hinweisen, der die Menschen ausgesetzt waren. Und das bedeute: "Jeder Tag kann ein Gedenktag sein."

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