Heimkinder:Schwere Versäumnisse bei Aufarbeitung von Missbrauch

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Die Stadt lässt Missbrauchsfälle in städtischen Heimen aufarbeiten. (Foto: Alessandra Schellnegger)

OB Dieter Reiter räumt ein, dass die Stadt sich zu spät und zu langsam um die Aufklärung von Gewalt an Kindern in der Obhut des Jugendamtes gekümmert habe. Betroffene können sich jetzt an eine neue Anlaufstelle wenden und Soforthilfe beantragen.

Von Bernd Kastner

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) räumt schwere Versäumnisse der Stadt bei der Aufarbeitung von Missbrauch ein. Viel zu lange habe sich die Stadt davor gedrückt, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, welche psychische und physische Gewalt Minderjährige erlitten haben, die in der Obhut des Jugendamtes lebten. Er bitte alle Betroffenen um Entschuldigung.

Reiter räumt ein, dass die Stadt Aufklärung und Aufarbeitung der Gewalttaten "nicht mit der notwendigen Akribie vorangetrieben" habe. Im Rahmen einer ersten Aufarbeitung von 2009 bis 2014, die mit einem Abschlussbericht über das Leben in drei städtischen Kinderheimen endete, habe man sich der Verantwortung allenfalls "genähert". Dass die Stadt erst im vergangenen Jahr eine Expertenkommission eingesetzt habe, sei "nicht wirklich schnell" gewesen, so Reiter.

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Dies sage er auch selbstkritisch, da er seit 2014 als OB die Verantwortung trage. Auch in dieser Zeit sei "nicht wirklich mit der notwendigen Geschwindigkeit und Sorgfalt" aufgearbeitet worden. Nun aber wolle die Stadt endlich versuchen, Leid anzuerkennen und Themen anzusprechen, "die wir viel zu spät aufgegriffen haben", so Reiter. Seit vergangenem Jahr widmet sich die Stadt intensiver als bisher dem Schicksal der Betroffenen. Sie sind meist in vorgerücktem Alter, einige sind bereits verstorben.

Die unabhängige Kommission aus Fachleuten nahm Ende 2021 ihre Arbeit auf

Anlass dafür, dass der Stadtrat 2021 auf Antrag von Grünen und SPD die umfassende Aufarbeitung initiierte, waren SZ-Berichte über das Schicksal mehrerer ehemaliger Heimkinder. Im Mittelpunkt stand dabei das vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern bis 1972 in Feldafing betriebene Heim in der Villa Maffei. Kinder von dort sollen im Heim selbst misshandelt und missbraucht worden sein. Täter sollen Beschäftigte der Heime, aber auch katholische Geistliche gewesen sein. Die Betroffenen und ihre Unterstützer äußern den Verdacht, dass Mädchen und Buben in den 60er-und 70er-Jahren systematisch herumgereicht und von unterschiedlichen Täterinnen und Tätern missbraucht worden seien. Das Bistum Augsburg hat die dem damaligen Feldafinger Pfarrer vorgeworfenen Taten anerkannt und mehreren Betroffenen Entschädigungen überwiesen, die für katholische Verhältnisse hoch ausfielen.

Verantwortlich für das Wohl der Kinder war und ist aber auch die Stadt München. Sie betreibt in Oberammergau das Hänsel-und-Gretel-Heim, wo Kinder ebenfalls Opfer von Gewalt wurden, und sie brachte Mädchen und Buben unter anderem in Feldafing unter. Die vom Stadtrat eingesetzte unabhängige Kommission aus Fachleuten hat sich Ende 2021 konstituiert. Sie soll aufarbeiten, was seit dem Krieg bis zum heutigen Tag Münchner Kindern widerfahren ist, in Heimen, aber auch in Pflege- und Adoptivfamilien, in München und darüber hinaus, auch an Orten außerhalb Bayerns und sogar im Ausland. Damit ist der vom Stadtrat erteilte Auftrag zur Aufarbeitung von Missbrauch und Misshandlung der umfassendste, der bislang in München und Oberbayern erteilt wurde.

Ignaz Raab sitzt der Kommission vor, er leitete bis zu seinem Ruhestand bei der Münchner Polizei das für Sexualdelikte zuständige Kommissariat. Die Kommission wolle sich mit anderen Akteuren vernetzen, die ebenfalls Verantwortung für das Leid tragen, etwa die beiden Kirchen oder der Paritätische Wohlfahrtsverband. Nachdem Betroffene "seit Jahren gegen Windmühlen gelaufen" seien in ihrem Wunsch um Anerkennung, wolle man unbedingt vermeiden, dass ihnen dies wieder passiere, betont Raab.

Deshalb nimmt in München nun eine spezielle Anlaufstelle die Arbeit auf. Dort können Betroffene zunächst Anträge auf Soforthilfe stellen, sie sollen beim Ausfüllen begleitet und unterstützt werden. Der Stadtrat hat fürs Erste 800 000 Euro für diese Soforthilfen freigegeben. Im kommenden Jahr werde die Anlaufstelle, die beim Verein "Kinderschutz München", angesiedelt ist, einem freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe, auch Anträge auf Anerkennungsleistungen entgegennehmen. Anfang 2023 wolle die Kommission dem Stadtrat vorschlagen, welche Summen an Betroffene ausgezahlt werden sollten, sagt Raab.

Demnächst soll ein Betroffenenbeirat eingerichtet werden

22 Betroffene haben sich nach Angaben von Cornelia Abeltshauser, Mitarbeiterin im Jugendamt und Geschäftsführerin der Kommission, bislang gemeldet. Darunter seien auch Personen, die bislang noch nie den Kontakt zur Stadt gesucht hätten. Sie alle hätten Gewalt in Heimen oder Pflegefamilien erlitten, manche auch an beiden Orten, geschehen sei dies im Großraum München und in Bayern.

Neu eingerichtet werden soll demnächst ein Betroffenenbeirat. Er soll als zweites Gremium gleichberechtigt und "auf Augenhöhe" mit der Kommission die Aufarbeitung steuern und begleiten. Carola Baumgartner, Vize-Chefin der Kommission, appelliert an Betroffene, sich aktiv einzubringen: "Bitte helfen Sie uns, indem Sie uns Ihre Perspektive aufzeigen und Ihre Belange vermitteln." Wer seine Bereitschaft zur Mitarbeit bekunde, den bitte die Kommission anschließend zu einem Kennenlerngespräch in kleiner Runde. Dabei wolle man die Vorstellungen zur Aufarbeitung austauschen. Die Erfahrung von Betroffenenbeiräten, etwa innerhalb kirchlicher Strukturen, zeigen, dass deren Arbeit sich oft als kompliziert und belastend erweist. Baumgartner sagt, die städtische Kommission wolle darauf achten, dass der Beirat in geschützter Atmosphäre arbeiten könne und die Mitglieder psychosoziale Begleitung erhielten.

Die Aufarbeitung der Gewalt unter dem Dach der Stadt ist das eine, das andere ist die eigentlich vorgelagerte Frage, was genau passiert ist. Bisher ist nur Rudimentäres bekannt, nachzulesen etwa im Buch der Stadt mit dem Titel "Weihnachten war immer sehr schön", erschienen 2014, verfasst von der Historikerin Christine Rädlinger; oder in Medienberichten aus den vergangenen eineinhalb Jahren, in denen Betroffene zu Wort kommen. Mit intensiven wissenschaftlichen Recherchen soll die Kommission, so ist es vom Stadtrat beschlossen, externe Wissenschaftler beauftragen. Derzeit laufe der Vergabeprozess, im Herbst wolle man den Auftrag vergeben. Der Stadtrat hat bislang 400 000 Euro für diese Recherchen gebilligt.

Die neu eingerichtete Anlaufstelle für Betroffene von Missbrauch und Misshandlung ist zu erreichen per E-Mail an anlaufstelle@kinderschutz.de , Telefon 089/23 17 16-91 70 oder im Internet unter www.kinderschutz.de/anlaufstelle . Betroffene, die sich im Betroffenenbeirat engagieren wollen, können sich melden unter Telefon 089/233-47 181 oder unter kommission@muenchen.de .

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